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Ein langer Tag

Ich liege im Bett. Schon gestern bin ich die Route für heute mehrfach durchgegangen. Es gibt zwei Varianten. Sie ähneln sich vom Anspruch, durchqueren aber unterschiedliche Gebiete. Die große Herausforderung wird heute allerdings, die Etappe zu bewältigen, denn es wird die längste Etappe meiner Tour werden. Gestern habe ich die 100 Kilometer vollgemacht. Für die nächsten 100 Kilometer werde ich keine acht, sondern nur fünf Tage brauchen. Heute ist es notgedrungen so, denn das Tuxer Jochhaus ist schon seit Monaten ausgebucht. Ein Pärchen gestern am Tisch hat noch Platz bekommen. Sie haben vor sechs Monaten gebucht. Wir anderen haben etwas neidisch geguckt. Es gibt keine wirklichen Alternativen zum Tuxer Jochhaus. Etliche werden nach Hintertux absteigen, ich habe mich entschieden, bis zur Geraer Hütte weiterzulaufen. Und weiß nicht, wie klug das ist. Es wird knackig werden. Über 20 Kilometer, fast 2000 Höhenmeter im Aufstieg. Vom Höhenprofil her sind es auf der einen Variante zwei große Anstiege, bei der anderen etliche kürzere. Was ist besser? Der Weg wird sich nach dem ersten Anstieg teilen. Spätestens dann muss ich mich entscheiden. Ich hoffe, ich spüre an der Kreuzung einfach, welcher Weg heute der bessere für mich ist.

Gestern war der Aufstieg zum Naviser Jöchl mühsam. Es war auch windig und kalt. Zum ersten Mal bin ich mit Buff und Kapuze gelaufen und war kurz davor, die Handschuhe rauszuholen. Kurz vor dem Joch und am Grat heulte der Wind richtig und peitschte von beiden Seiten die Wolken hoch. Es war ein echtes Schauspiel, aber auch kräftezehrend und zu ungemütlich für Pausen. Heute wird es sonnig werden. Aber am Morgen und Nachts ist es hier immer kühl.

Die Lizumer Hütte liegt in einem Talschluss und auch gestern Abend saß ich wieder am plätschernden Bach und habe die letzten Sonnenstrahlen genossen. Die Hütte liegt aber auch mitten im militärischen Sperrgebiet, was sich eher eigentümlich anfühlt. Unweit von hier stehen Kasernen und vor der Hütte ein Schild, wann und ob und wo Schießübungen stattfinden. Im Moment sind zum Glück keine. Im Gegensatz zur Voldertalhütte gestern ist die Hütte hier rappelvoll. Es gab sogar Tischzuweisungen gestern, was hier auf der Hütte wohl üblich ist. Am Tisch waren wieder einige Traumpfadwanderer, mit denen ich dieses Mal allerdings nicht warm werde, auch wenn sie nett sind. Aber ich bin auch noch im Ruhe-Modus, brauche grad nicht viele Menschen, bin abends froh, als ich mich nach dem Essen zurückziehen kann.

Trotz vollem Bettenlager mit 20 Leuten habe ich diese Nacht überraschend gut geschlafen. Es war meine bisher beste Bettenlagernacht. Juhu! Habe mich gestern Abend aber auch gleich mit Oropax verstöpselt und Augenbinde zugebunden, dass ich einfach „weg“ war.

Es ist halb sieben morgens. Jetzt werde ich aufstehen, den Rucksack packen, um sieben frühstücken und dann los. Bin gespannt, was ich heute Abend schreiben werde.

Am Abend: Geschafft! Ich habe die Etappe geschafft. Wahnsinn. Gestern Abend blies mir noch Skepsis für meine Planung entgegen, heute Morgen macht mir ein Ur-Bergsteiger Mut. Von der Sonne und Luft gegerbte Haut, erfahren, vielleichtum die 60 Jahre alt. Bergsteigern sieht man an, dass sie es sind. Es tut gut, ermutigende Worte in meine Selbstzweifel hinein zu hören. „Das kann man gut schaffen.“ Dazu bekomme ich gleich noch eine Geschichte von ihm und wie er lange Touren erlebt. „Man stellt sich drauf ein, läuft anders los.“ Er hat Recht. Ich weiß, ich muss mir meinen Tag heute einteilen wie ein Rennen, mit meinen Kräften haushalten, Pausen machen, gut Wasser trinken und genug Energie zuführen.

Ich verabschiede mich rasch beim Frühstück. Ich will zeitig los. „Mein“ Bergsteiger ist auch schon verschwunden. Als ich loslaufe, kurz nach halb acht, sind die Bergspitzen schon in Sonne getaucht. Das Wetter ist klar, keine Wolke am Himmel. Am Gras sehe ich, dass heute Nacht Frost war. Ich ziehe meine Handschuhe an, mein Stirnband und versuche, in einem guten Rhythmus voranzugehen. Als ich mich umblicke, sehe ich hinter mir „meinen“ Bergsteiger und seinen Freund, der genauso profimäßig aussieht. Ich hoffe im Stillen, dass sie mich schnell überholen. Die Rechnung geht nicht auf. Spannenderweise laufen sie im fast gleichen Tempo hinter mir her. Und irgendwann denke ich, das sind meine zwei Bergengel für heute, zumindest für die ersten 1200 Meter Anstieg. Ich spüre zunehmend, dass mich ihr Hinterherstapfen nicht irritiert, sondern dass es mich beschützt. Bremst. Ihre Ruhe tut mir gut. Hin und wieder halten wir an denselben Stellen. Bis oben! Ich kann es kaum glauben und freue mich, dass der Aufstieg so gut ging. Das Panorama ist atemberaubend. Wir können in alle Richtungen sehen, schweigen diesen Moment aus, jeder in seine Welt versunken. Bergsteiger brauchen wohl nicht viele Worte. Vielleicht bin ich doch einer? Irgendwie haben sie mich akzeptiert und vielleicht habe ich sie auch überrascht?

Danach trennen sich unsere Wege. Ich laufe jetzt leichtfüßiger, sicherer. Was guter Kontakt ausmacht! Aber vielleicht bin ich auch ein bisschen naiv, weil ich meine, der größte Anstieg sei geschafft. Das stimmt zwar, aber noch immer sind es 18 Kilometer und 800 Höhenmeter, ganz zu schweigen von den 1600 Metern bergab. Der Tag wird sich ziehen. Doch die Aussicht ist gewaltig. Bis zum Mittag begleitet mich der Tuxer Gletscher mit seinen Nachbarn. Aber man sieht auch, wie sehr der Gletscher schrumpft. Wie lange wird er noch da sein?

Bald liegen vor mir grüne Bergrücken und ich denke: Wie schön wäre es, wenn ich die langlaufen könnte! Sie sehen weich und einladend aus, ein Gegensatz zum schroffen Gebirge. Mein Wunsch geht in Erfüllung. Es ist genau meine Route! Wie Wege wirklich aussehen, zeigt immer erst die Realität. Ich freue mich über das Geschenk.

Ab dem Mittag wird es anstrengend. Der lange Abstieg zehrt. Der Weg bergab ist zwar schön, ein reiner Wiesenweg, aber er zieht sich. Dann ein langer Weg durchs Tal. Auch er ist schön, und zieht sich. Dann der Aufstieg im nächsten Tal. Ich fange an, mich intensiver mit Wasser und „mm Peanuts“ zu versorgen. Ich brauche Energie. Der Aufstieg ist nicht schwer, aber kräfteraubend. Ich keuche, bleibe ständig stehen. Was habe ich mir nur angetan? Zu spät. Da muss ich jetzt durch. Vorhin habe ich mit der Geraer Hütte telefoniert, dass ich komme. Ich hatte es mir offen gehalten, falls ich es nicht schaffe. Notfalls hätte ich draußen übernachtet. Der Wirt meint, sie seien voll, ich solle aber trotzdem kommen. Ich sage nur, ich würde auch auf der Ofenvank schlafen und meine es ernst. Er lacht und verneint.

Irgendwann beginne ich meine Schritte zu zählen. Immer hundert, dann bleibe ich kurz stehen. Und wieder hundert. So geht es leichter und ich staune, wie gut ich vorankomme. Mein Blick ist längst nicht mehr bei der Schönheit der Berge, nur noch auf dem Weg. Eins, zwei, drei … hundert. Kurze Pause. Eins, zwei, drei … Ich bin froh, als ich oben bin. Geschafft! Es sind immer noch zwei Stunden bis zur Hütte. Puh. Der Rest des Weges ist steinig, aber wenig Auf und Ab und läuft sich gut. Endlich habe ich wieder Augen für die Berge, den Himmel. Und vor allem die Steine. Eine wahre Steinwüste tut sich vor mir auf. Das Laufen übers Blockwerk macht mir Spaß. Es ist fast ein kleiner Wettbewerb, immer die besten Steine für den eigenen Rhythmus zu erwischen. Auch heute überraschen mich wieder Murmeltiere, gucken mich einfach an. Spüren sie, dass ich ungefährlich bin? Ich bin nicht gut im Murmeltiere entdecken. Ich habe bestimmt schon viele
übersehen. Aber hier sind sie einfach da, sitzen rum, ich stolpere förmlich über sie. Und bedanke mich bei ihnen, dass sie sich zeigen.

Abends halb sechs bin ich endlich an der Hütte. Geschafft. Froh. Dankbar, dass alles gut geklappt hat. Die nächsten Etappen werden kürzer werden. Aber es war auch schön. Meine Füße freuen sich über Ruhe, aber irgendwie war mein Körper heute auch quicklebendig und wir sind gut miteinander klargekommen. Er mag die Berge wohl …

Die Geraer Hütte ist meine letzte Nacht in Österreich. Morgen werde ich die Grenze zu Italien queren. Wie schnell man doch zu Fuß vorwärts kommt. Fast geht es mir zu schnell. Ich freue mich, dass ich noch ein paar Wochen vor mir habe. Was für ein Privileg! Und ja, ich habe sogar noch einen richtigen Platz im Bettenlager bekommen.


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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