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Erster Schnee und viel Wasser

Freitag. Mein Wecker klingelt heute viel zu früh und als ich ihn ausmache, höre ich bereits, dass es draußen schüttet und gewittert. Ich stöhne. Noch einen Ruhetag will ich nicht machen. Der Blick auf die Wetter-Apps zeigt, dass ich in jedem Fall nicht um acht starten werde wie gedacht. Laut Regenradar bin ich in einer fetten Wolke, durch die ich erst gegen zehn durch bin. Mittags soll es aber auch regnen. Ich merke, ich muss die Infos jetzt ruhen lassen, erst mal gute Gedanken tanken, dann zum Frühstück und dann weiß ich vielleicht mehr?

Das Hotel hat mich wieder in mein Schreiben am Morgen hineinfinden lassen. Das will ich mir auch heute nicht rauben lassen; meine Briefe an Gott müssen sein. Ich merke, sie tun mir gut, sortieren meine Gedanken, holen mich runter, helfen mir beim Loslassen. Heute Morgen springt mich das Thema Dankbarkeit an. Und ich merke: Ich kann total dankbar sein, völlig unabhängig vom Wetter und auch wenn der Tag ins Wasser fällt. Ich bin dankbar für so Vieles und egal was heute ist, ich will die Dankbarkeit gern mit durch den Tag nehmen. Ob mir das gelingen wird?

Gegen neun ist mein Rucksack gepackt, der Himmel wird heller, die Wolken lockerer. Ich stutze kurz, denn plötzlich sehe ich: Die Gipfel sind weiß! Da oben hat es heute Nacht geschneit! Ich freue mich total, denn das garantiert gute Ausblicke und Fotos. Außerdem weiß ich, dass ich den Felsen heute nahekommen werde. Aber es wird eben auch sichtbar, dass der Sommer wirklich zu Ende ist. Die grünen Berge sind mittlerweile oben gelb. Wo Heidelbeerkraut ist, sind sie gelb-rot. Die Berge sehen im Herbst wirklich anders aus als im Sommer. Das stelle ich immer mehr fest und merke, ich sammle gerade meine Herbst-Erfahrung. Und jetzt liegt oben Schnee.

Als ich kurz nach neun loslaufe, regnet es nicht mehr so stark und es macht fast Spaß, durch den Regen zu stapfen. Heute sind 1600 Meter nach oben dran und es geht über den Pass da Cancian. Auch bin ich heute eigentlich in sechs Stunden da.

Der Weg steigt stetig an. Bald hört der Regen auf und ich pelle mich aus den Regensachen. Endlich Luft! Der Weg führt zum Teil über alte Steinpfade, die mich an Napoleon denken lassen und die sich bei Nässe nicht sehr gut laufen. Ich muss aufpassen. Weiter oben laufe ich dann wieder und wieder an Almen vorbei. Mittlerweile scheint die Sonne und ich kann die meisten Bergspitzen sehen. Sie sehen schön bezuckert aus. Der Felsen wirkt dadurch viel weicher.

Außerdem ist heute, sicher auch aufgrund des Regens der letzten Tage, überall Wasser. Die Wege sind feucht und dienen den Rinnsalen als Flussbett. Ich muss nicht selten schauen, wie ich trocken durchkomme, suche mir meine Wege. Auch die Bäche sind heute voller, überall Wasserfälle und das Gurgeln des Wassers begleitet mich den ganzen Tag.

Oben am Pass bei 2600 Metern angekommen, erreiche ich auch die Grenze, verabschiede mich von der Schweiz, wechsele wieder nach Italien. Und ich entscheide mich, einen Umweg zu laufen, weil der Weg so schön aussieht und einfach lockt. Mein Tagespensum, den Anstieg, habe ich ja schon geschafft. Aber ich weiß auch, das wird ein Plus an acht Kilometern und anderthalb Stunden geben. Ich überlege, esse Mittag und entscheide mich dafür. Ob das klug ist?

Das Hochtal, in das ich jetzt absteige, sah von oben verführerisch aus. Ein Wasserlauf, der sich richtig toll schlängelt, ein schöner und gut laufbarer Weg immer genau daneben, viel Grün und irgendwie unberührt. Kein Wunder, dass ich nicht widerstehen kann. Und ich genieße den Weg in der Tat. Ich laufe gern an Wasser und unberührte Hochtäler haben es mir einfach angetan. Auch heute begegne ich kaum Menschen.

Kaum bin ich in das Tal abgestiegen, sehe ich, dass die Wolken von hinten dort aufsteigen, wo ich eben noch Mittagspause hatte. Wind beginnt zu blasen. Das Wetter ändert sich. Ich bin froh, dass ich nicht den kurzen Weg zur Hütte über den Grat gewählt habe. Dieser hier ist zwar länger, aber sicherer.

Ich beschleunige meinen Schritt, genieße trotzdem weiter, sauge die Landschaft in mich auf. Irgendwann kommt der Wind von vorn und ich sehe die Regenfront auf mich zukommen. Schon bei den ersten Tropfen werfe ich mich in meine Regenmontur. Bis ich alles anhab, dauert es ohnehin. Als ich fertig bin, drücken die Wolken die Starttaste, als hätten sie auf mich gewartet. Ich bin dankbar, freue mich, laufe beschwingt weiter. Als ich später an einem fetten, schräg stehenden Felsen vorbeikomme, nutze ich ihn als Unterschlupf. Hinten wird der Himmel schon heller, warten kann sich lohnen. Am Felsen entdecke ich, dass ich nicht allein bin. Eine fette Kreuzspinne hat auch schon ihr Netz gebaut und hängt darin herum. Ich nehme meinen Platz neben ihr ein. Es gibt genug Raum für uns beide.

Mein Hochtal führt heran an den Lago di Gera, einen Stausee. Ich bin nicht so der Stauseefan, auch wenn ich verstehe, warum es sie gibt. Ich trauere immer der Natur hinterher, die der Stausee unter sich begräbt und die unwiederbringlich verloren ist. Auch die dicken Staumauern verschandeln so den Blick. Und die meisten der Stauseen, an denen ich bisher vorbeigekommen bin, sind nur halb gefüllt. Der Lago di Gera steht trotzdem vor atemberaubender Kulisse, denn dahinter ragen die 4000er der Bernina in den Himmel. Wie schön! Ich halte immer wieder an, mache Fotos.

Gegen fünf bin ich dann endlich an meiner Hütte, dem Rifugio Ca‘ Runcasch. Der Wirt und seine Frau sind lustig. Wir suchen nach gemeinsamen englischen Vokabeln, lachen. Die Atmosphäre ist locker und ich habe das Gefühl: Hier bin ich gut aufgehoben. Als ich später frage, wann Abendbrot ist, erzählt mir der Wirt begeistert und mit Händen und Füßen, was er für mich kochen wird. Es hört sich gut an. Ich bin gespannt! Als ich dann später zum Essen runtergehe, erfahre ich von ihm, dass er sogar mal ein Jahr in Frankfurt im Frankfurter Hof als Kellner gearbeitet hat. Er ist kommuninativ. Wir wechseln ins Deutsche.

Die Hütte hier hat über’s ganze Jahr geöffnet, erfahre ich. Im Winter ist sogar Hauptsaison. Dann kommen die Schneeschuhgeher. Im Moment ist nicht viel los, was er bedauert. Nächste Woche enden hier die Schulferien, dann wird es noch weniger. Seine Frau bedeutet mir, dass er ein guter Koch ist. Ich freue mich aufs Essen. Für heute habe ich genau die richtige Unterkunft, merke ich.

Ich sitze am Tisch und warte aufs Essen, freue mich darauf. Aus der Küche kommen fröhliche Geräusche. Die beiden Wirtsleute erzählen, lachen, Töpfe klappern. Alles wirkt ganz natürlich, von innen kommend. Ein bisschen beneide ich sie um ihre Leichtigkeit. Leicht haben sie es vermutlich trotzdem nicht. Eine Hütte bedeutet auch viel Arbeit.

Ich genieße das Essen. Eine Art Spätzle mit einem Hauch von Rindfleisch. Gut und würzig. Das ist nur die Vorspeise. Danach kommen Rindfleischstücke am Spieß mit Bratkartoffeln, Möhren und Zwiebel. Ich putze alles weg, habe Hunger. Aber es ist auch sehr lecker, mit Kräutern gewürzt. Der Wirt versteht sein Handwerk. Zum Nachtisch werde ich befragt, wonach mir ist. Und als ich „süß“ sage, wird mir ein Crepe mit Himbeermarmelade angeboten. Wie könnte ich das ausschlagen? Ein perfektes Menü zum Sabbatanfang …


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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