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Finale

So habe ich mir das Ende meiner Reise nicht vorgestellt. Der Tag beginnt heute, Sabbat, wieder eher. Um acht sitze ich bei Romano am Frühstückstisch, zum Abschied bitte ich ihn noch um ein Foto von mir und den Blick von seiner Terrasse. Am Schluss macht ein Pärchen aus Bonn noch ein Foto von uns beiden. Dann gehe ich los. Nicht, ohne mich vorher bei ihm zu bedanken und ihm und seiner Familie alles Gute zu wünschen. Er hat mir in den letzten Tagen mehr geschenkt als nur ein Zimmer.

Der Weg schraubt sich zunächst von Dorf zu Dorf nach oben. Heute sind es noch mal 1800 Höhenmeter. Der wirklich letzte Anstieg. Ich hoffe, ich kann ihn ein bisschen genießen, die Wege sind gut sichtbar und ich kriege noch ein paar schöne Ausblicke. Vielleicht will ich zuviel Happy End.

Meine Füße sind heute durchaus bereitwillig unterwegs. Der Nichtlauftag gestern war genau richtig. Trotzdem holen mich die Wege heute nicht ab. Die Lauferei von Ort zu Ort ist nett, aber mehr auch nicht. Ab und zu gibt es schöne Passagen, aber ich laufe vor allem durch trockenen Wald. Natürlich, ich muss wieder über die Baumgrenze, doch dieses Mal ist der Wald Buchenwald und das Laub liegt dick am Boden. Ich sehe nicht, wohin ich trete, rutsche immer wieder, kann auch keine Stufen laufen wie sonst. Irgendwann meldet sich meine Ferse; also kleine, bewusste Schritte, sonst wird es heute schwierig.

Ab 1700 Metern Höhe entlässt mich der Wald und ab jetzt geht es über Wiesen. Herbstwiesen. Bis zur Alm ist noch ein Weg gemäht, dann stehe ich wieder vor dem bekannten goldgelben Gras, was kniehoch steht. Überall. Kein Wanderzeichen in Sicht, kein Weg. Und es sind noch 400 Höhenmeter bis nach oben.

Wieder lotse ich mich per GPS. Manchmal kann ich am Gelände erkennen, wo der Weg vermutlich verlaufen wäre. Dann ist wieder gar nichts sichtbar. Die Graslatscherei ermüdet mich, spannt mich an. Ich komme nicht mal dazu zu schimpfen. Einfach nur konzentriert vorwärts, nur keinen Fehler machen. Ich hoffe, oben am Pass finde ich einen Weg.

Als ich endlich oben bin und damit die Schweiz betrete, habe ich immerhin noch mal einen schönen Blick auf den Comer See. Allerdings pfeifen mittlerweile so starke Windböen um mich herum, dass ich beim Laufen schauen muss, dass sie mich nicht umwerfen. Sie kommen so unberechenbar und aus verschiedenen Richtungen, dass ich mich nicht darauf einstellen kann. Und ab und zu wirklich im Gras lande.

Oben am Pass mache ich Pause im Gras an einer windgeschützten Stelle. Allzu lange halte ich mich aber nicht auf. Ich will weiter, zumal ich nicht weiß, wie sich der Weg gestalten wird. Anfangs kann ich tatsächlich einem Pfad folgen und gehe erleichtert weiter, bald schon verläuft sich dieser allerdings und ich stehe wie schon öfter die letzten Tage vor weglosem Gelände, während meine Karte die schönsten Wanderwege zeichnet.

Dass es dieses Mal keinen Weg gibt, ist nicht gut. Laut Karte wäre es ein Panoramaweg immer an der Bergflanke entlang gewesen. Ich stehe nun aber an der Flanke, bin theoretisch auf dem Weg, aber da ist keiner. Zurück ist wie immer keine Option. Ich muss weiter. Also norde ich mich mal wieder per GPS ein und bin nun ein wahrer Pfadfinder, der zwar keinen Pfad findet, sich aber durchschlängelt durch unwegsames Gelände. Hilfreich ist, dass die Richtung klar ist und irgendwann lotst mich auch ein See, an dem ich vorbei muss. Ansonsten laufe ich über Grasbüschel, Heidelbeersträucher, immer wieder Fels. Manchmal merke ich, ich komme nicht weiter, dann klettere ich wieder zurück. Ich merke, der Tag schafft mich. Am See angekommen, leuchten mir ironischerweise ganz fett Wanderzeichen entgegen. Allerdings von einem von unten kommenden Weg.

Ab dem See gibt es dann auch wieder Wege und Markierungen. Ich bin froh, merke, wie die Anspannung von mir abfällt. Noch eine Stunde bis zur Hütte. Und das ist dann auch wirklich so.

Am Abend treffe ich auf der Hütte noch eine Schweizerin, die hier einmal im Jahr die Wanderwege begeht und begutachtet. Ich gehe zusammen mit ihr meine Route durch; sie notiert sich alles. Es tut mir gut, dass sie Deutsch kann. Und irgendwie werde ich bei ihr auch die Last meines Tages los. Ich merke, er steckt mir voll in den Knochen. Ich hoffe einfach nur, dass es morgen besser wird.

Sonntag. Nach einer guten Nacht und meiner letzten im Bettenlager packe ich früh alles zusammen. Die Schweizerin hat mir versichert, dass es meine Wege von heute gibt. Wie schön wäre das! Entspanntes Laufen! Mehr erwarte ich erst mal nicht vom Tag. Gestern hat mich einfach nur frustriert.

Ich laufe los vom Rifugio San Jorio. Als ich mich verabschiede, sehe ich, dass die Hüttenleute schon dabei sind, die Hütte winterfest zu machen. Machen sie heute dicht? Gestern Abend haben wir alle mehr oder weniger in voller Montur in der Hütte gesessen. Es war einfach nur kalt und der Kamin gab nur mäßig Wärme. Ich war froh, als ich endlich in den Schlafsack kriechen konnte.

Vom Rifugio ist es nur ein ganz kurzer Anstieg bis zur Bergkante. Ich laufe los, erwarte nicht viel – und stehe plötzlich vor beeindruckender Kulisse. Ich sehe unten den Luganer See, denke ich, dahinter die hohen, schneebedeckten Berge der Schweiz. Sind es Eiger, Mönch und Jungfrau? Wow! Damit habe ich nicht gerechnet. Sofort denke ich: Der Tag gestern hat sich doch gelohnt. Ein Berg hat eben immer zwei Seiten. Später sehe ich bei GoogleMaps, dass ich mit beiden Annahmen falsch lag. Tatsächlich habe ich den Lago Maggiore vor mir sowie Matterhorn und Weißhorn. Nicht schlecht.

Heute stelle ich erfreut an jeder Ecke fest, dass es Wege, Zeichen und Markierungen gibt! Mit wie wenig man doch zufrieden ist. Der Weg zeigt sich als echter Panoramaweg. Auch das habe ich nicht erwartet. Fast die ganze Zeit geht es auf einem Pfad am Bergrücken entlang nach unten. Immer wieder tolle Ausblicke. Ich kann einfach nur laufen, gucken und auch meinen Gedanken nachhängen.

Im Kopf bin ich auch immer noch bei gestern. Wege, die keine sind. Wege, die ich finden muss. Eine Parallele zu meinem Leben? Es ist viel einfacher, Wege zu gehen, die vorhanden sind. Dann kann ich einfach gehen, genießen, notfalls auch schimpfen. Aber Wege, die ich selbst finden und anlegen muss? Neue Wege kosten Kraft und Mut. Aber vielleicht sind sie am Ehesten meine Wege? Wenn ich nach Hause komme, wird sich auch die Frage nach dem Job stellen … Was ist mein Weg?

Das letzte Stück hinunter nach Bellinzona ist mal wieder römisches Pflaster und knielastig. Es zieht sich, irgendwann merke ich, dass sich die Spitze von meinem Wanderstock verabschiedet hat. Gut, dass sie bis heute gewartet hat! Erleichtert laufe ich irgendwann kurz nach drei durch die Tür meines Hostels. Geschafft! Jetzt wirklich!

Was waren das noch mal für zwei Tage! Eigenartig, dass beide Tage zusammenhängen. Das Heute war nur aufgrund des Gestern so. Hätte ich mich gestern nicht durchgekämpft, hätte ich heute diese Ausblicke nicht gehabt. Und so ist es ja immer. Es gibt nicht nur die Sahnestücke. Auch wenn ich die lieber habe. Aber wie oft habe ich auch schon gemerkt, dass das Umkämpfte erst den Boden für Dinge bereitet hat, an die ich nicht mal im Traum gedacht habe.

Vielleicht war mein Laufen doch mehr Gleichnis als ich dachte. Ich merke, es arbeitet in mir, die Reise wird fortwirken. Noch bin ich mittendrin. Aber was werde ich in einer Woche sagen, in einem Monat, in einem Jahr? Morgen werde ich nach Hause fahren, versuchen, wieder im Alltag zu landen. Wie wird es mir gelingen?

Ich habe mir vorgenommen, in jedem Fall noch einen Beitrag mit zeitlichem Abstand zu schreiben, vielleicht in einer Woche. Ich bin selbst gespannt!


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


2 Gedanken zu „Finale“

  1. Was für ein beeindruckender Bericht und ein wundervolles Finale, trotz Höhen und Tiefen beim Wandern. Oder herade deswegen? Vieles was Du übers Wege finden und Schritte gehen berichtet hast, empfinde ich auch als Gleichnis für mein Leben. Ich finde es sowundervoll, dass Du Dir Deinen Traum erfüllt hast und auch bei mir wird Dein Bericht lange nachwirken. Eine gute erste Woche Dir Zuhause.

    1. Liebe Sandra, danke für deine Worte! Ja, es war eine bewegte Zeit und ich bin mit vielen Eindrücken nach Hause gekommen – und wohl noch eine Weile am Sortieren. Ankommen ist auch wieder herausfordernd. Ich bin dabei :). Liebe Grüße!

Danke für deinen Kommentar.

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