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Geschafft

Was für ein Tag! Als ich früh um kurz nach sechs unterhalb der Alpe Camera aus dem Zelt krieche, ist es noch dämmrig und ich denke, ich hätte vielleicht doch länger liegenbleiben können. Aber zurück wäre schwieriger als vorwärts, wirklich!, also arbeite ich mich Stück für Stück in den Tag. Anfangs noch mit Taschenlampe und ein bisschen umständlich; es ist einfach kaum Platz auf meinem Grasfleck und in der einen Ecke ist ein fettes Loch, in das ich schon gestern immer wieder hineingetreten bin. Als ich kurz das Gleichgewicht verliere, halte ich mich schlauerweise an meiner Zeltschnur fest – Resulat: mein Zelt kracht ein und jetzt muss ich zudem noch auf Heringssuche gehen. Irgendwann habe ich dann aber eine gute Reihenfolge gefunden, erst mal das Zelt eingepackt, dann alles auf der Isomatte ausgebreitet, meine stinkenden Klamotten wieder angezogen (ein letztes Mal?), den Rucksack in der richtigen Reihenfolge gepackt … Das ist wichtig, damit ich mir die Sucherei nach Regenjacke oder Pflaster erspare. Ganz oben drauf kommt mein Frühstück; das werde ich später essen.

Als ich eine Stunde später abmarschbereit bin, ist es hell. Heute hängen die Wolken tief und auch der Comer See liegt versteckt im Dunst. Das Wetter habe ich gerade noch mal gecheckt. Ich will wissen, ob ich mich beeilen muss, was mich erwartet. Ab mittags kann es regnen, später auch gewittern. Es ist also vielleicht nicht schlecht, dass ich heute früh dran bin. Und ich bin einmal mehr froh, dass ich gestern schon über den Pass bin. Heute wäre daran nicht zu denken.

Über mir bimmelt es. Als ich hochschaue, sehe ich am Fels über mir eine Ziegenherde. Keine Ahnung, wie die da von mir so unbemerkt hingekommen ist. Aber die Ziegen gucken mich an und haben sich vielleicht zu Recht gedacht: Was macht die denn hier? Oder auch: Die lassen wir lieber in Ruhe. Ich danke ihnen in schönstem Deutsch und überlasse ihnen dann gern ihr Tal. Sie sind hier zu Hause, ich nur Gast.

Heute muss ich 1600 Meter absteigen; der Comer See liegt auf 200 Metern. Ohne Wanderstöcke würde ich das nicht wollen. Meine Knie auch nicht. Ich rechne damit, dass ich fünf Stunden für den Abstieg brauche. Mal schauen. Unten in Verceia will ich dann schauen, wie das Wetter ist, was meine Beine sagen, wie spät es ist. Vielleicht komme ich heute zum Comer See, vielleicht auch erst morgen.

Der Weg bergab ist gut zu gehen, auch wenn Aufmerksamkeit gefragt ist. Gerade am Morgen, wenn Beine und Geist noch nicht so da sind, stolpere ich gern. Und ich will mir nicht jetzt noch auf die letzten Meter irgendwas tun.

Anfangs verläuft der Weg in Serpentinen steil bergab. Nebenbei denke ich immer wieder: Gut, dass ich die Schlafstelle da oben hatte; hier unten wäre es noch schwieriger bis unmöglich gewesen. Nach einer halben Stunde ist mir schon so warm, dass ich meine Fleecejacke ausziehe. Es ist schon jetzt schwül. Und ich bin noch oben!

Ich komme gut voran. Den größten Teil des Abstiegs laufe ich durch Wald, rascheln meine Füße durch Laub. Den See sehe ich nicht mehr, aber es stört mich nicht. Ich hatte meine Aussicht gestern Abend. Jetzt bin ich noch einmal im Wald versunken, im Berg, in mir?

Außer mir ist niemand unterwegs. Das Laufen allein empfinde ich als angenehm. Es würde mich fast stören oder erschrecken, wenn mir jemand entgegenkäme. Ganz unten treffe ich die ersten Menschen.

Es ist elf Uhr, als ich in Verceia eintreffe. Ich staune, wie schnell ich vorangekommen bin, wie schnell man einen Berg hinter sich lassen kann. Den letzten Berg. Habe ich ihn genug genossen? Will ich ihn überhaupt schon hinter mir haben?

Ich merke, es treibt mich vorwärts. Unten angekommen, beginnt es zu regnen. Gut, dass ich unten bin! Ich hatte es schon bemerkt, dass sich der Berg hinter mir zuzieht. Wieder einmal fällt mir auf, wie sehr einfach alles passt, stimmt. Als würden die Berge auf mich und meine Routen und Etappen gewartet haben und ihre Pforten schließen, wenn ich durch bin. Als würde jemand mir gnädig sein, mich beschenken wollen.

Es gab so viele „Zufälle“ auf dieser Reise, dass ich nicht daran glaube. Vielmehr fühle ich mich beschützt, getragen, gehalten. Nein, ich hatte keine großen Offenbarungen und Erkenntnisse, aber vielleicht geht es auch nicht immer darum. Und vielleicht hatte ich sie im Nachhinein ja doch, nur auf andere Art und Weise?

In Verceia setze ich mich an den Lago di Mezzola, der dem Lago di Como vorgelagert ist, und überlege. Ich habe den halben Tag noch vor mir. Ich kann es heute schaffen. Wenn ich will. Und wenn das Wetter … Den Zeltplatz als Unterkunft kann ich mir bei dem Wetter allerdings abschminken. Ich bemühe mal wieder Booking und finde nach einigem Hin und Her eine nette Unterkunft in der Nähe von Gravedona und buche gleich für zwei Tage. Also Regenklamotten an und los geht’s.

Ich genieße das flache Land mehr als ich dachte. Der Weg am Seeufer, dann zwischen den Seen die Wiesenwege, überall Wasservögel und Störche … Die Wege sind schön, laufen sich gut und ohne Höhenmeter komme ich schnell voran. Ganz ungewohnt.

Kurz nach eins stehe ich dann da, am Comer See. Am obersten Zipfel. Am Ziel. Ich fühle mich gar nicht so, aber vielleicht liegen die großen Gefühle auch schon hinter mir, oder sie kommen noch? Die letzten zwei Tage haben mich mehr berührt. Und gerade der Abend gestern, der Blick auf den See, die Ruhe, das Alleinsein in der großen Schöpfung, das Schlafen am Berg, es war irgendwie schon ein Ankommen. Jetzt bin ich richtig da, auch mit den Füßen. Aber vielleicht auch zu beschäftigt, weil ich ja weiterlaufen muss! Bis Gravedona. Noch zehn Kilometer plus der Weg zu meiner Unterkunft.

Es hat aufgehört zu regnen. Am Comer See ist schönes Wetter, auch wenn die Wolken die Gewittertendenz andeuten und es schwül ist. Habe ich schon wieder „Glück“?

Mein Weg führt mich komplett am Ufer des Sees entlang. Heute werde ich die meisten Kilometer gehen, sechsundzwanzig. Aber der Weg ist gut und weil es immer etwas zu sehen gibt, ist er kurzweilig. In Domaso peile ich noch den Supermarkt an, denn ich habe alles aufgegessen. Mittlerweile liebe ich diese „Feldzüge“, denn ich kann kaufen und essen, worauf ich Appetit habe. Nach vier Wochen Hüttennahrung und italienischem Weißbrotfrühstück habe ich Appetit auf so vieles. Und manches davon kaufe ich jetzt einfach. Tomaten und Gurke muss heute auf jedem Fall sein, Nüsse, Brot und wie immer Käse. Und Kekse.

Inzwischen freue ich mich auf mein Zimmer, sehne mich der Dusche entgegen. Schweiß und Dreck der letzten zwei Tage kleben dermaßen an mir. Und ich freue mich aufs Waschen. Endlich wieder frische Wäsche!

Bis dahin vergehen allerdings noch anderthalb Stunden, denn wie ich jetzt erst sehe, liegt meine Unterkunft weiter oben als gedacht. Noch mal 400 Höhenmeter hoch. So war das nicht geplant. Meine Alpenüberquerung ist doch vorbei! Es hilft nichts. Ich folge brav meiner Wanderapp, die mich verschlungene Wege den Berg hinauflotst. Und zugegeben, die Aussicht von oben auf den See ist gigantisch.

Was auf der Wanderkarte nach Weg in der Stadt aussieht und Flachland vortäuscht, sind in Wirklichkeit viele Treppen, die enge Gässchen ausfüllen und mich stetig nach oben führen. Und an jeder Ecke neue Ausblicke auf den See. Ich steige über die Dächer von Domaso und staune. Und schwitze. Und staune. In der Ferne sehe ich den Berg, an dem ich noch heute morgen aufgewacht bin. War das wirklich erst heute Morgen? Wie kann man so schnell so weit gehen?

Ortschaften, Weinberge und Wald wechseln sich jetzt ab. Eigentlich ist der Weg schön und ich bin froh, dass ich nicht unten wie ein Hering in der Dose auf dem Campingplatz eingeklemmt bin. Trotzdem, Ankommen wäre schön. Einfach nur da sein. Hinsetzen. Ausruhen. Es war einfach viel die letzten Tage.

Kurz nach fünf bin ich da. Zehn Stunden auf Achse. Aber ich bin froh, denn so habe ich morgen wirklich einen Ruhetag. Ich freue mich! So richtig ist es aber noch nicht gesackt das „Ich bin da“.

Abends poste ich das erste kurze „Geschafft“, die ersten Glückwünsche trudeln ein. Ich fühle mich gar nicht so großartig. Auch habe ich wenig Lust auf Pläne für morgen. Dabei bin ich doch am Comer See!

Ich freue mich einfach nur auf Ruhe. Aufs Rumlümmeln. Aufs nicht schwitzen, aber vielleicht schwimmen? Auf ein gutes Frühstück. Auf meinen Tomatensalat. Darauf nichts zu müssen. Ob ich das wirklich durchhalte? Ich bin mir nicht sicher, ob ich morgen nicht vielleicht doch meine Wanderschuhe anziehe. So ganz ohne Laufen, das kann ich vielleicht doch nicht?

Auch ist meine Reise hier zwar zu Ende, und doch nicht. Mein Zug wird am Montag von Lugano bzw. Bellinzona (CH) aus zurück in Richtung Heimat gehen. Das war logistisch am Einfachsten. Zwischen meiner Unterkunft jetzt und Bellinzona liegt … ein Pass. Mit einem Rifugio. Ich habe es vor einigen Tagen gebucht, denn das Wetter wird passen. Es wird noch mal eine zweitägige Abschiedstour. Dann ist wirklich Schluss. Aber jetzt mache ich erst Mal Ruhe!


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


2 Gedanken zu „Geschafft“

  1. Liebe Steffi, ich möchte dir auch gratulieren zum bestandenen Abenteuer!
    Du bist echt mutig!
    Danke, für deine vielen schönen Erlebnisse, an denen ich teilhaben durfte. Und nun wünsche ich dir noch eine gute Restwanderung und Heimreise!
    Bis bald, Claudia

Danke für deinen Kommentar.

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