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Herbstzeitlose

Mittagspause. Ich sitze im Gras, blicke zurück zum Sellastock, den ich gestern und heute überquert habe. Was für ein Massiv! Wenn ich gewusst hätte, was mich vom Weg her erwartet, ich weiß nicht …

Die Nacht auf der neu sanierten Boehütte war angenehm. Ein Bettenlager gibt es dort nicht, nur Mehrbettzimmer. Auch war die Hütte nicht voll, sodass am Ende die Französin von der Lizumer Hütte und ich ein Doppelzimmer hatten. Das Zimmer roch total angenehm nach Holz, drei Stockbetten, sogar Steckdosen! Diese sind zwar nur zwischen 18.30 Uhr und 22 Uhr aktiv, aber das reicht.

Auf der Hütte habe ich auch die zwei Mädels wiedergetroffen, mit denen ich zusammen nach Pfunders gelaufen bin. Sie hatten einen Ruhetag eingelegt. Wir sehen uns nun zum letzten Mal, denn ich drehe morgen nach Westen ab, verlasse endgültig die München-Venedig-Route. Den Abend genießen wir noch gemeinsam, aber müde. Die Kletterei hat uns heute alle angestrengt.

Gespächsthema des Abends ist auch das Wetter. Hier oben auf fast 3000 Metern ist das Klima rauh. Auch ist ein Wetterumschwung vorhergesagt. Wir wissen nicht, wie lange das Wetter morgen hält. Wir wissen nur, der Abstieg wird schwierig. Abends ziehen immer wieder Wolken zu. Manchmal ist Sicht, manchmal keine. Die Temperatur fällt hier oben schnell in den frostigen Bereich. Dann fängt es an zu regnen, zu graupeln, ab und zu ein Blitz. Es ist eigentlich ein Schauspiel, doch wir alle wollen morgen runter. Wird das klappen?

Fünfzig Meter vor der Hütte habe ich einen Spot ausgemacht, an dem ich Internet und Empfang habe. Das ist bei jeder Hütte die Frage: Gibt es Empfang? Und wenn ja, wo? Es ist ein Lotteriespiel.

Morgens hängen die Wolken tief. Immerhin regnet es nicht. Ich mache heute gemütlich, denn wir haben beschlossen, heute keine weitere Kletterei zu machen, sondern die Seilbahn für das 600-Meter-Steilstück zu nehmen. Der Tag verspricht zwar wider Erwarten doch, gut zu werden, aber beim Laufen merken wir auch schnell, dass der Fels nicht griffig ist. Es würde uns viel Kraft kosten, die wir noch brauchen. Ich will nichts riskieren und es geht mir gut mit der Entscheidung.

Die Seilbahn ist dann auch unser Abschied. Unten angekommen wünschen wir uns gute Wege und alles Gute. Die Mädels werden am Sonntag in einer Woche in Venedig landen. Für mich beginnt jetzt die zweite Halbzeit auf neuen Wegen.

Der Abschied fällt mir nicht schwer. Ich stapfe los. Mit den Wegen habe ich allerdings erst mal Pech. Der Weg, den ich Richtung Plattkofel einschlagen will, ist nur für Mountainbiker und für Wanderer verboten. Ich lande ungewollt in der falschen Richtung, schlage mich querfeldein durch. Der nächste Weg ist gesperrt. Dann fällt meine digitale Karte aus. Grad ist der Wurm drin. Nachdem ich die Karte dank Internet aktiviert habe, beschließe ich, einfach die Mountainbikestrecke zu gehen und zur Not zur Seite zu hüpfen. Nach einer halben Stunde bin ich endlich wieder auf meiner Route. Von Mountainbikern habe ich nicht viel gesehen.

Ich genieße das Grün. Heute begegnen mir überall Herbstzeitlose. Der Herbst kündigt sich in Lila an. Bald ist September. Dass die Tage merklich kürzer werden, nehme ich schon eine Weile wahr. Auch die Nächte sind taureich und kühl. Ich bin gespannt auf die nächsten zweieinhalb Wochen. Wird mein Plan aufgehen?

Meine Etappen sind fix, allerdings laufe ich heute die letzte Hütte an, die ich reserviert habe. Alles Weitere werde ich vom Wetter abhängig machen. Es ist eigenartig, nicht genau zu wissen, was morgen ist. Ich habe verschiedene Optionen. Aber erstaunlicherweise mache ich mir darum gerade keinen Kopf. Wo kommt die Gelassenheit her? Stück für Stück, wohl auch in der Hinsicht.

Bis zur Plattkofelhütte sind es noch zwei Stunden. Sie werden mich mit Aussicht verwöhnen. Es geht vor allem durch Wiesen und rings um mich das Dolomiten-Panorama. Heute kann ich es genießen! Und auch meine Füße freuen sich über guten Boden.


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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