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Im Schweizzipfel

Mittwoch. Ich liege doch nicht allein im Bettenlager des Rifugio wie erhofft, gestern Abend ist noch eine siebenköpfige, italienische Gruppe angekommen. Dennoch war abends schneller Ruhe als gedacht, was mich gefreut hat. Heute Morgen werde ich wohl die Erste sein, die aufsteht und frühstücken geht. Entsprechend habe ich gestern schon das meiste in den Rucksack gepackt, damit ich ihn nur schnappen brauche und das richtige Einräumen dann im Flur erledigen kann. Ungeschriebenes Gesetz auf einer Hütte ist Rücksichtnahme. Sobald der Erste schläft, ist Ruhe angesagt. Und solange jemand schläft, eben auch. Ungeachtet Ohrstöpseln und Augenbinden. Frühaufsteher haben sich daher aus dem Bettenlager buchstäblich zu schleichen, was ich auch gern tue. Durch’s Fenster habe ich schon einen Blick auf den blauen Himmel erhascht. Er lockt mich.

Um acht bin ich dann auch fertig und abmarschbereit. Und wie immer habe ich dann doch noch etwas im Rucksack vergessen, muss ihn noch mal absetzen, kramen … Nicht jeden Morgen brauche ich meinen Sonnenhut, heute schon. Eingecremt wird später, denn ohne Creme schwitzt es sich besser. Erfahrungswert.

Auch heute ist der Morgen bezaubernd. Tautropfen hängen im Gras herum, die Sonne hüllt die Berge ins Morgengelb, die Konturen der Berge sind klar und weich. Die Seen spiegeln die Farben und je höher ich steige, desto besser sieht es aus. Bald schon ist die Hütte aus meinen Augenwinkeln verschwunden. Jetzt denke und laufe ich nur noch vorwärts.

Auch heute Morgen entscheide ich mich spontan für eine andere Wegvariante. Das ist wohl meine Morgenkrankheit. Oder es ist meiner Morgennaivität geschuldet, die mal wieder vergessen hat, dass noch zwanzig Kilometer zu laufen sind. Egal, schöne Wege lohnen sich immer. Auch heute verwirren mich wieder die Wanderschilder, die manche Wege gar nicht auszeichnen, die es aber de fakto gibt, und andere Wege groß mit Zielen beschildern, die anders an sich besser zu erreichen wären. Immer wieder sind Entscheidungen zu treffen, immer wieder zücke ich meine Karten, studiere Richtungen und Höhenlinien und frage mich, was nun wirklich der beste Weg ist. So langsam komme ich nämlich an den Punkt, für heute keine weiteren Umwege laufen zu wollen, egal wie schön sie sind.

Hier oben gibt es so viele Seen, dass ich beschließe, genug davon gesehen zu haben und nicht extra zu den Seen abzusteigen, wie ich es als Tageswanderer wohl tun würde. Ich laufe also schmunzelnd vorbei, habe kein Problem damit sie zu verpassen und denke mir grinsend, dass ich sie mir ja gegebenenfalls im Internet später ansehen kann. Ein bisschen wunderlich komme ich mir dabei aber schon vor. Andererseits muss ich Prioritäten setzen, denn jetzt bin ich wach genug um zu wissen, der Tag wird auch ohne Seen lang genug.

Eine halbe Stunde nach meiner Hütte bin ich heute in die Schweiz eingewandert. Auf der Landkarte ist es nur ein kleiner Zipfel, den ich durchsteige. Theoretisch bin ich dann morgen schon wieder in Italien, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob mir das Wetter eine Zwangspause in der Schweiz bescheren wird. Heute soll es kippen und das ist ein Problem, denn eigentlich steht heute wieder eine Zeltnacht an. In meiner Planung hatte ich mir das so wunderschön ausgemalt. In der Realität suche ich mir aber in der Mittagspause eine feste Unterkunft. Hoch lebe das mobile Internet! Ich will nichts riskieren und bei einhundert Prozent Regenwahrscheinlichkeit inklusive Gewitter wäre alles andere töricht. Je nach Aussichten muss ich das aber vielleicht verlängern. Leider soll es sogar bis Freitag ungemütlich sein und meine nächste Etappe führt mich über einen Pass auf 2500 Metern. In der Höhe will ich nichts riskieren. Das wäre leichtsinnig.

Nachdem ich nun weiß, wo ich die Nacht verbringen werde, läuft es sich wieder leichter. Ich merke, zu viel Unsicherheit hilft mir nicht, ein klares Ziel schon. Meine Mittagspause mache ich gerade mal auf der Hälfte der Strecke, was bedeutet, dass sich der Nachmittag ziehen wird. Theoretisch steige ich zwar „nur“ noch ab und es geht eher sanft abwärts und über Almen, aber zehn Kilometer sind zehn Kilometer und meine Beine melden jetzt schon ihr Ruhebedürfnis an. Irgendwann beginnt es zu regnen und da ich der Prognose traue, kleide ich mich gleich richtig ein. Regenhose, Regenjacke, Regenhülle für den Rucksack. Mir wird bewusst, dass ich die Regenklamotten das letzte Mal im Karwendel anhatte! Vor mehr als zwei Wochen! Bisher hatte ich mit dem Wetter richtiges Glück. Regen ist also längst fällig, auch wenn ich ihn grad nicht gebrauchen kann. Kaum habe ich das Regenzeug an und spaziere los, hört der Regen auf und die Sonne grinst mich an. Wenig später ziehe ich alles wieder aus …

Die letzten Kilometer bis Poschiavo ziehen sich über viele kleine Almen mit ihren Häuschen. Jedes Häuschen sieht anders aus, jedes ist liebevoll gepflegt. Hier in der Gegend sind es vor allem Steinhäuschen, die sich völlig in die Landschaft einfügen und weiter unten sogar kleine Minidörfer bilden.

Gegen halb vier stolpere ich endlich in Poschiavo ein. Meinen Füßen reicht es und ich bin froh, dass ich nicht noch zwei Kilometer weiter zum Zeltplatz und ein Zelt aufbauen muss. Einfach nur rein in mein Zimmer 19 und mich aufs Bett fallen lassen! Ich bin da! Es tut so gut!

Nach dem Duschen und Einkaufen wälze ich dann noch mal Karten, schaue aufs Wetter und weiß doch: Ich kann es erst morgen früh entscheiden. Sieben Tage brauche ich jetzt noch bis zum Comer See. Ein Ruhetag morgen wäre drin, länger will ich aber definitiv nicht in der Schweiz bleiben auch wenn es heute schön war, mal wieder deutsche Klänge zu hören. Ich hoffe, morgen bin ich schlauer und das Wetter bietet mir eine gute Entscheidungsgrundlage. Was ich mir wünsche? Vielleicht wäre ein Tag Ruhe gar nicht so schlecht. Die letzten Tage waren anstrengend. Aber spätestens Freitag, da würde ich gern weiterlaufen …


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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