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Rifugios

Dienstag. Heute bin ich im Rifugio Val Viola untergebracht. Im Moment sitze ich auf der Bank in der Sonne. Es ist kurz nach halb fünf, die Zimmer sind noch nicht verteilt und die Kühe gerade eingetrieben.

Die Hütte liegt schöner als ich dachte. Sie ist von Seen, Bächen und Grün umgeben. Nur der Weg war etwas mühevoll und meine Füße froh, als sie endlich nach zwanzig Kilometern ankommen durften.

Rückblende. Gestern Abend habe ich in einem privaten Guesthouse übernachtet. Den Kommentaren auf der Buchungsplattform zufolge sollte es ein bisschen wie ein Hostel sein, also keine Verpflegung, aber eine Küche. Ich hatte ein Bett im 6-Bett-Zimmer gebucht und mich schon auf Gesellschaft eingestellt. Als ich mein Domizil dann endlich gefunden hatte, mit Umweg über den Supermarkt, der zum Glück existierte, staunte ich nicht schlecht: ein altes Tiroler Haus, das beim Hineinsehen eher nach Stall ausschaut. Die zweite Etage war dann allerdings wohnlich und original. Und es stellte sich heraus, dass ich heute Nacht die Einzige bin! Mein Vermieter packte dann auch bald seine Sachen und ließ mich mit dem Haus allein.

So viel Raum nur für mich! Eine Küche nur für mich! Am Ende wurde es dann zwar auch nur Pasta, aber gefühlt ist es schon Ewigkeiten her, dass ich mir das letzte Mal selber einen Tee gekocht habe. Für mich ist dieses Haus ein Glücksgriff. Ich fühle mich beschenkt. Der große Küchentisch wird zu meinem Schreibreich. Sogar WLAN habe ich. Abends suche ich mir irgendwann meine christliche Playlist von Youtube, mache mir Musik an und singe richtig laut mit. Es ist ja keiner da, auf den ich Rücksicht nehmen muss, nicht mal ein Zimmernachbar. Nur ich. Es macht Spaß, mich selbst zu hören. Die Lieder und Texte tun mir gut, erinnern mich an den, der die Berge erfunden hat und mit mir unterwegs ist. Ich muss irgendwann aufhören, sonst komme ich morgen nicht aus dem Bett.

Gegen halb acht verlasse ich am Morgen mein Tiroler Haus, stolz, dass ich wirklich so früh dran bin. Der frühe Vogel fängt nun mal den Wurm und ich habe festgestellt, dass es zum Laufen einfach die entspannteste Zeit ist, in der ich und meine Füße mit dem Tag warmwerden und den Gedanken nachhängen können. Der Plan geht heute nur kurz auf. Mein schöner Wanderweg, auf dem ich gerade noch zwei Rehe beim Frühstück überrascht habe, endet im Nirvana. Zurückgehen will ich nicht, es würde zu viel Zeit kosten. Also mal wieder per GPS losgepeilt. Problem ist nur, dass ich mitten im Wald bin, der voller Steilhänge ist und auch hier fallen leider viele Bäume um, weil sie krank sind. Das Wegstück kostet mich Schweiß und Nerven, obwohl der Anschluss zum nächsten Weg eigentlich nicht weit ist. Mein dicker Rucksack hilft mir auch nicht gerade dabei, unter Bäumen durchzukriechen und mich durchs Geäst zu schlagen. Ich bin bedient, aber was soll ich machen? Also weiter.

Irgendwann nach einer halben Stunde komme ich wieder auf einen Weg. Mein Morgenfrieden ist längst verschwunden und ich ärgere mich, dass ich so viel Zeit gebraucht habe. Gefühlt bin ich noch nicht wirklich vorwärts gekommen.

Die ersten drei Stunden des Tages, die ich so mag, ziehen sich heute wie Kaugummi. Immer wieder geht es hoch, dann wieder runter. Und dem Berg, auf den ich heute muss, komme ich nur mühsam näher. Wenn das so weitergeht …

Von elf bis zwölf komme ich dann aber richtig gut voran und hoch. Eigenartig, wie Tage verlaufen. Gestern war der Start super und dann wurde es mühsam, heute ist es genau andersherum. Keine Tour, kein Weg ist gleich. Es gibt immer öde Stücke, anstrengende, genussvolle, steile. Und selten ist der Weg, wie ich ihn mir vorstelle.

Es bleibt abwechslungsreich. Wieder muss ich ein Stück absteigen. Das Höhenprofil spielt mir heute echt einen Streich. Und dann muss ich wieder hoch. Einmal laufe ich falsch, das muss ich wieder zurück. Einmal querfeldein pro Tag reicht. Die letzten anderthalb Stunden nehme ich einen anderen Weg als geplant. Und hoffe, meine Rechnung auf einen schönen Weg geht auf. Sie tut es. Das letzte Stück zur Hütte steigt zwar noch einmal an, aber verläuft statt Wirtschaftsweg jetzt einfach nur am Bachlauf entlang. Es ist blockig, aber die Steine in allen Größen sind einfach in die Landschaft eingebettet. Dazwischen immer wieder das Kraut der Alpenrosen, die längst verblüht sind, und das inzwischen rot gefärbte Heidelbeerkraut. Im Hintergrund die Berge, neben mir rauschend und quirlig der Bach, dessen Wasser voller Kraft über die Felsen saust und sich seinen Weg bahnt.

Es war auch heute wieder ein langer Tag. Inzwischen sind die Zimmer verteilt. Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt. Die Zimmer sind einfach und eher als Schlafsaal zu bezeichnen. Stockbetten aus Metall, dazwischen jeweils ein Nachttisch, auf dem liebevoll eine kleine Blumenvase steht. Auch eine warme Dusche gibt es. Und um sieben Uhr ist Essen. Polenta, wenn ich es richtig verstanden habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute allein hier zu Gast bin. Ob Gott mir schon wieder ein Einzelzimmer besorgt hat? In den letzten Tagen hat er mich echt überrascht.


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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