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Blaubeerfülle

Urlaub. Gerade sind die Alpen unser Zuhause. Und wo auch immer wir zurzeit in den Bergen herumkraxeln, überall stehen die kleinen Blaubeersträucher. Manche sind schon leergefuttert und je nachdem, wie die Erntemenschen unterwegs waren, sieht der Busch mehr oder weniger gerupft aus. Aber erstaunlich viele hängen noch voll und warten nur darauf, bepflückt zu werden.

Beim Touren können wir unmöglich an jedem Busch anhalten … Müssten wir alle Blaubeeren pflücken, wir würden es nie schaffen! Die meisten der Beeren werden wohl am Strauch vertrocknen.

Zu viele Blaubeeren. Das ist wahrlich kein echtes Problem. Und doch denke ich: Wie schade! Wie schade, dass die meisten der Beeren nicht im Magen landen. Verschwendung pur. Warum macht Gott sowas?

Vielleicht ist es seine Eigenschaft. Vielleicht ist er einfach verschwenderisch mit Gutem. Im Sommer in den Alpen wird mir das immer wieder bewusst. Die üppigen Wiesen, die Weite, der Raum. Zu Hause in unserer Stadt steht Haus an Haus. Jeder Platz wird ausgenutzt, bebaut. Und wenn nicht in die Breite, dann eben in die Höhe. Nicht selten schaut man beim Nachbarn ins Fenster. Ohne Gardine geht nichts. Hier nicht. Hier laufe ich manchmal den ganzen Tag über den Berg, ohne groß jemandem zu begegnen. Was für ein Raum! Ein ganzer Bergkamm nur für mich! Und im Fall von gestern noch für Schafe, Salamander, Murmeltiere, Schmetterlinge …

Reichtum. Gerade die Alpen lassen mich immer wieder staunen, berühren etwas in mir. Hier fühle ich mich lebendig. Beschenkt. Genau richtig. Manchmal habe ich das Gefühl, Gott hat die Alpen extra für mich geschaffen.

Und doch, der Sommer in den Alpen ist kurz. Vielleicht ist er deshalb so üppig. Und ich nehme auch wahr, dass die Alpen ein bedrohter Raum sind, die Schutzgebiete bitter nötig. Zu sehr versuchen wir Menschen auszubeuten, da noch ein Skigebiet, dort noch ein Hotel. Es gibt kaum noch Täler ohne Liftanlagen. Alles muss erreichbar, eroberbar sein. Man sieht den Bergen an, was sie auszuhalten haben unter uns Menschen. Von den schwindenden Gletschern ganz zu schweigen.

Wie unterschiedlich leben wir doch – Gott und Mensch. Wir gieren und wollen möglichst alles ausnutzen und mitnehmen. Gott gibt und stellt uns Tausende kleine Blaubeersträucher vor die Füße in dem Wissen: Es ist viel zu viel. Vielleicht schmunzelnd: „Ihr schafft das mit dem Pflücken ja sowieso nicht.“ Paradiesische Zustände, begrenzt auf Raum und Zeit. Wie muss es erst im Paradies gewesen sein?

Mehr als genug. Als DDR-Kind ist mir dieses Gefühl fremd. Wir hatten immer genug, aber selten zu viel. Wo es mal Orangen oder Nussmus gab, da war die Fülle rationiert. Manchmal haben wir auch gar nichts abgekriegt. Und wenn, dann haben wir es als Familie aufgeteilt und aufgespart, damit wir möglichst lange etwas davon hatten. Es ist heute noch Luxus für mich, mir Nussmus so richtig dick aufs Brot zu streichen oder Nektarinen einfach so zu essen. Ich höre immer noch nach einer auf. Die andere kann ich doch auch morgen …

Blaubeerfülle. Vielleicht bin ich deshalb so berührt, stehe ich fast hilflos zwischen all den vollen Sträuchern. Ich mit meiner Sparsamkeit. Überfordert vom zu viel. Und mit dem Anspruch, dass davon nichts schlecht werden und ungenutzt bleiben darf. Wir haben immer die letzten Reste aus dem Glas Nussmus geholt. Und das, was wir an Obst im Sommer zu viel hatten, wurde eingekocht für den Winter. Fülle im Sommer als Segen für den Winter.

Gott hat es mal wieder geschafft. Er hat mich überrascht. Und mir zugleich gezeigt, dass er der ganz Andere ist. Dass er nicht klein denkt, sondern groß. Dass er nicht knausert, sondern aus dem Vollen schöpft. Dass ich bei ihm nicht sparen muss, sondern mitschöpfen darf.

Für heute habe ich jedenfalls den Eindruck: Gott macht es Spaß, mich mit seiner Fülle zu überraschen, mich buchstäblich in sie hineinzustellen, mir beim Überlegen und Pflücken zuzusehen. Und ja, es ist ein schönes Gefühl zu wissen: Es ist genug da. Danke, Gott!

Foto: pixabay, Alexandr


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


8 Gedanken zu „Blaubeerfülle“

  1. Hallo, liebe Stephanie! Vielen lieben Dank für Deinen neuen Text. Du schreibst soooo schön, zart, mitfühlend und tiefgründig. Es macht so viel Freude, Deine Texte zu lesen. Du musst sie unbedingt einem Verlag anbieten für die Herausgabe. Wunderschönen Urlaub noch und herzliche Grüße aus dem Norden, Lydia

  2. Liebe Stefanie,
    Ich möchte mich ganz herzlich für deine Blaubeerzeilen bedanken. Es tut mir sehr gut deine Texte zu lesen. Habe im Moment eine nicht so gute Zeit und bin froh wenn ich wieder etwas von dir lesen kann. Ich wünsche Dir noch eine schöne Zeit in den Bergen. Liebe Grüße Brigitte

  3. Ich glaube, Gott hat keine Zahl, kein Maß. Für uns Menschen ist das sicher wichtig, aber nicht für Gott. Gott ist Leben, in jeder einzelnen Blaubeere, in jedem Murmeltier, in jedem Stern, im unendlichen Universum.
    Manchmal empfinde ich unsere Welt als so unglaublich schön, daß es fast schmerzt.
    Weiterhin ganz schöne Tage.

  4. Liebe Stefanie,
    Gott ist die Fülle und in seiner Fülle unbegrenzt. Deine Blaubeergedanken bringen diese Fülle zum Leuchten. Danke! Darf ich noch hinzufügen, was mir dazu einfällt? Gott ist die Liebe und in seiner Liebe zu Dir und zu uns Menschen unbegrenzt. Du und wir leben unser Leben in SEINER grenzenlosen und bedingungslosen Liebe. Jede Blaubeere, jede Blüte, jeder Stein, jeder Stern, jede Galaxie wird dann ein leuchtender Hinweis auf diese grenzenlosen Fülle SEINER bedingungslosen Liebe — und wir sind mitten drin! Wenn das so ist, dann ist das wirklich etwas zum Staunen.

Danke für deinen Kommentar.

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