Wir sitzen auf einer Bank, genießen den Blick ins Tal. Sie kommt uns entgegen vom Berg. Langsam, Schritt für Schritt, die Wanderstöcke voran. Sie schreitet mit solch einer Langsamkeit bergab, dass wir uns wundern. Bis sie bei uns angelangt ist, dauert es gefühlt ewig. Wir grüßen, tauschen uns kurz über den Weg aus, dann geht sie weiter. In ihrem Tempo.
In den Bergen ist selten das Tempo das Entscheidende und Eile gefährlich, das wissen wir, und doch: So langsam haben wir noch nie jemanden vom Berg absteigen sehen. Wir lächeln über diese Frau, fragen uns, wie man überhaupt so langsam gehen kann. Wir sind anders unterwegs. Doch sie geht mir nicht aus dem Kopf. Ich weiß, vermutlich stolpern wir mehr als sie, und sie wird garantiert sehr viel weniger die Bergrettung benötigen als manch anderer.
Kleine Schritte. Langsame Schritte. Warum sind sie so in Verruf gekommen? Warum lächeln wir über Menschen, die langsam gehen? Wir witzeln, dass sie für die Tour bestimmt doppelt so lang braucht wie wir. Ich bin mir nicht sicher, ob wir richtig liegen. Ich bin mir nur ziemlich sicher, dass sie genauso ankommt wie wir.
Mut zur Langsamkeit. Mut zu kleinen Schritten. Mut, in der allgemeinen Hektik nicht mitzuschwimmen. Mut, mein eigenes Tempo zu gehen, auch wenn alle anderen schneller sind. Ich weiß, manches in meinem Leben wäre anders verlaufen, wäre ich mit der Ruhe dieser Frau herangegangen. In der Ruhe stolpert man weniger. In der Ruhe verausgabt man sich anders.
In mir erhebt sich der Einwand, dass sich heutzutage keiner solch eine Ruhe leisten kann. Es geht doch überall ums Abarbeiten und Vorankommen. Ausruhen soll man sich bitteschön zu Hause. Aber da tut man’s natürlich auch nicht, denn auch zu Hause will alles erledigt sein.
Nie fertig sein. Es fordert mich heraus. Wenn ich Dinge erledigt habe, freut es mich. Zugleich weiß ich, nach der Arbeit ist vor der Arbeit. Überall. Wenn die Waschmaschine leer ist, ist der nächste Wäschekorb bald wieder voll. Und wenn wir in der Redaktion die monatlichen Ausgaben geplant und im Druck hatten, lagen die nächsten schon wieder auf dem Tisch. Nie fertig. Im Idealfall im Fluss bleiben, das Tempo halten, genauso schnell die Dinge abarbeiten, wie sie sich aufbauen. Und wenn sie sich schneller aufbauen als ich mithalten kann?
Dinge in Ruhe erledigen, ist Luxus geworden. Oder gerade heute in dieser Rennerei-Zeit notwendig.
Ich erinnere mich an meine erste Tour mit Bergführer. Es ging auf die Braunarlspitze und wir waren eine bunt gewürfelte Truppe. Treffpunkt war früh um sechs an der Kirche. Dort besprachen wir uns kurz und dann ging unsere Zehnergruppe los. Der erste Anstieg war sanft, wir liefen vorneweg. Der Bergführer hinterher. Aber das bemerkten wir erst an der nächsten Weggabelung, denn dort mussten wir auf ihn warten.
Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, stieg uns langsam und lächelnd hinterher und entgegen. An besagter Weggabelung ließen wir ihn vor. Es wurde steiler, er ging kontinuierlich sein Tempo. Bald schon kam uns das nicht mehr zu langsam vor. Tapfer schritten wir ihm hinterher, schwitzend, und viel zu schnell sehnten wir uns nach einer Pause. Er ging weiter, machte uns Mut, stellte uns eine Pause weiter oben in Aussicht. Wir folgten ihm stumm, denn zum Reden hatte keiner mehr Luft. Doch wir spürten, sein Tempo ist gut. Sein Tempo ist gehbar, durchhaltbar. Unser Rennen zu Beginn hatte uns nichts genützt, nur Kraft gekostet.
Kleine Schritte. Langsam gehen. In steilem Gelände muss man das. Es scheint mir, als wenn Jesus Ruhe gelebt hat. Trotzdem Welt an ihm zerrte, jeder etwas anderes erwartete und von ihm wollte und sein Auftrag war da ja auch noch … Leben aus der Ruhe. Leben aus den kleinen, langsamen Schritten, weil vielleicht nur sie wirklich zum Ziel führen, sich Zeit zum Atmen und Überlegen lassen, zum Fokussieren und Nachjustieren.
„Wenn du es eilig hast, geh langsam“, soll Konfuzius gesagt haben. Mein Verstand will dem ein Aber entgegensetzen. Doch die Ruhe legt mir den Finger auf die Lippen und schüttelt den Kopf. Luther sagte vor 500 Jahren: „Ich habe viel Arbeit, deshalb muss ich viel beten.“ Es scheint mir, er hatte das Geheimnis Jesu entdeckt.
Gewinne ich etwas, wenn ich schnell mache?
Seit meinem Burnout habe ich den Eindruck, mein Körper holt sich die Ruhe zurück. In den ersten dreißig Jahren meines Lebens habe ich eine Menge Zeit gespart. In den letzten Jahren merke ich, ich bin ruhebedürftiger, mein Körper sagt schneller Stopp. Er zwingt mich zu der Ruhe, die ich mir selbst nicht zugestehen will. Ich sollte ihm dankbar sein und nicht noch auf ihn draufhauen und ihm vorwerfen, dass er nicht so funktioniert, wie ich will.
Ich brauche Ruhe. Ich brauche ein Lebenstempo, bei dem ich mich nicht selbst überhole. Ich brauche eine Drehzahl, die mich nicht zerreißt. Ich werde nichts verpassen, wenn ich langsam gehe. Vielleicht verpasse ich ja nur das, was zu viel wäre?
Ich will es nicht hören. Ich hasse verpassen. Ich will nicht verpassen. Doch ich spüre, es ist wahr. Vielleicht ist Verpassen am Ende ein riesiger Segen. Nicht alles tun und haben müssen. Nicht alles erreicht und mitbekommen haben. Aber sich nicht verloren haben. Im Jetzt gewesen sein. Bei Menschen. Bei Gott. Mein Herz muss diese Wahrheit noch lernen: Wenn ich bei Gott bin, verpasse ich nichts. Wirklich nichts.
Foto: pixabay | christian schwartz
Stephanie Kelm
ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.
Danke, Steffi, für Deine Gedanken. In knapp drei Wochen will ich mein Sabbatjahr beginnen, mit kleinen Schritten und langsamen Tempo – wie Du geschrieben hast. Ich freue mich darauf. Und vielleicht wird aus diesem Sabbatjahr mit der Zeit eine innere Haltung, in der man selbst in dieser dahinrasenden Welt so etwas wie sieben Tage in der Woche – also immer – den Geist des „Sabbats“ spürt, auch wenn man nicht unbedingt den buchstäblichen Sabbat hält. Kann es sein, dass bei Gott immer „Sabbat“ ist?
Lieber Wolfgang, dir ein gesegnetes Sabbatjahr, in der du in besonderer Weise in Gottes Gegenwart, Ruhe und Fülle eintauchen darfst. Immer Sabbat, bei Gott, in seiner Gegenwart, in seiner Ruhe ruhen, immer … Gott muss noch ziemlich viele Horizonte in meinem Denken öffnen :). Aber er arbeitet sich durch, Stück für Stück. Danke für die Bilder! Schön, dass wir gemeinsam unterwegs sind.