„Geh weg!“, sagt Petrus zu Jesus – doch Jesus bleibt. „Geh weg!“, bitten die Gerasener Jesus – und er geht. Warum folgt Jesus ihren Worten und verlässt sie, und warum bewegt er sich bei Petrus keinen Zentimeter von der Stelle?
Gehen und Bleiben
Beide Geschichten beginnen eher (Lukas 5,1–11 und Lukas 8,26–39).
Die Gerasener sehen gerade den Mann vor sich sitzen, der bisher von Dämonen besessen war. Sie hatten versucht, ihn zu binden und ihn sogar in Ketten gelegt, um ihn zu bändigen. Erfolglos. Der Mann hatte alle Ketten zerrissen. Nun aber sitzt dieser Mann geheilt, bekleidet und völlig verändert zu Jesu Füßen – aber von ihnen sagt der Text: „Es hatte sie große Furcht ergriffen.“ (Vers 37) Sie bitten Jesus zu gehen. Sie müssen diese Begegnung erst einmal verdauen. Und Jesus geht.
Auch Petrus ist zutiefst erschrocken. Die ganze Nacht ist kein Fisch ins Netz gegangen. Jetzt bei Tage hatte ihm Jesus aufgetragen hinauszufahren. Es passiert, womit niemand gerechnet hat und was allem Fischerwissen widerspricht: Mitten am Tag ist sein Netz zum Zerreißen voll. Und Petrus weiß genau: Es liegt an Jesus. Jesus hat ihm diesen Fang beschert. Und er kann nicht anders, als Jesus tief erschrocken zu bitten: „Geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.“ (Vers 8) Doch Jesus bleibt.
Geh weg von mir! – Warum kommt Jesus dieser Bitte bei den Gerasenern nach, bei Petrus aber nicht?
Was ich brauche
Jesu Reaktion geht mir nach. So viele Fragen auch offenbleiben, in beiden Geschichten berührt Jesus mit seinem (Nicht)Verlassen etwas in mir.
Mich erstaunt die Akzeptanz und Gelassenheit, mit der Jesus die Bitte der Gerasener respektiert. Offensichtlich spürt er ihre Not, ihr Bedürfnis nach Raum. Er merkt, wie sehr diese Heilung sie verunsichert hat. Er weiß, dass sie erst einmal Ruhe brauchen, um zu verstehen, alles sacken zu lassen – und keine Predigt. Jesus gibt ihnen diesen Raum. Er zieht sich zurück, verlässt ihre Gegend. Nicht beleidigt, sondern verständnisvoll.
Und mich berührt, wie hartnäckig Jesus der Bitte von Petrus widersteht. Ja, Petrus hat Recht! Er ist ein sündiger Mensch und die Begegnung mit Jesus hat ihm nur noch mehr die Augen dafür geöffnet. „Geh weg!“, bittet Petrus, fast fleht er Jesus darum an. Doch Jesus bleibt. Weil er weiß, dass der Grund, dem Petrus ihm liefert, kein Grund ist. Er ist ja für die Sünder gekommen! Die Sünde am Sünder ist gerade kein Anlass für Jesus, den Rückzug anzutreten. Er verlässt Sünder nicht.
Freiheit und Nähe
Geh weg! – Auch wenn ich Gott noch nie so explizit zum Weggehen aufgefordert habe, habe ich oft erlebt, dass er mir Raum gibt, wenn ich es brauche, mir eben nicht auf die Pelle rückt, eine Predigt startet oder den Zeigefinger schwingt. Ich bin ein Mensch mit einem hohen Freiheitsbedürfnis. Und ich habe den Eindruck, Gott weiß das. Er gibt mir Raum, diktiert mir nichts auf, lässt mir die Freiheit. Er zwingt mich nicht zum Gottesdienst oder Gebet, denn er weiß, wir begegnen uns in anderen Räumen. Er hat keine Angst, mich zu verlieren, weil er weiß, dass man nicht durch Festhalten gewinnt, sondern durch Loslassen.
Geh weg! – Schon oft habe ich gedacht: Was macht Gott nur mit Menschen wie mir, die das mit dem Glauben und hingebungsvollen Leben einfach nicht auf die Reihe kriegen? Ich habe Gott noch nie gebeten, von mir wegzugehen. Aber ich würde verstehen, wenn er es täte. Er hätte viele Gründe.
Gott verlässt Sünder nicht. Aber er nimmt uns auch nicht die Luft zum Atmen.
Dass Gott so ist, lässt mein Vertrauen wachsen. Er gibt mir die Freiheit, die ich brauche, auch wenn er weiß, dass ich in seinen Armen die allergrößte Freiheit hätte. Aber er hat Geduld und er weiß, eines Tages werde ich seine Nähe wirklich genießen können. Aber noch bin ich unterwegs. Noch darf ich in den Gedanken hineinwachsen, wie gut er ist.
Dass Gott trotz meiner Abgründe keinen Abstand zu mir sucht, gibt mir Hoffnung. Nicht darauf, dass ich vielleicht doch nicht so schlecht bin, sondern darauf, dass Gott es wirklich mit mir aushält, mich aushält.
Geh weg! – Ja, ich gebe dir Raum, den du brauchst.
Geh weg! – Nein, ich verlasse dich nicht.
Foto: pixabay | Larisa Koshkina
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Stephanie Kelm
ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.
Hallo Stephanie,
das ist ein interessanter Gedanke, dass Gott uns von Zeit zu Zeit einen (Frei-)Raum gibt. Bei der Begebenheit der Gerasener habe ich bei E.G.White gelesen, dass dieser Raum etwas bewirkt hat. „Als Jesus in das Gebiet der Zehn Städte zurückkehrte, scharten sich die Menschen um ihn, und drei Tage lang hörten nicht nur die Einwohner einer Stadt, sondern Tausende aus der ganzen Umgebung die Botschaft der Erlösung…“
Ich habe als Jugendlicher auch die Gemeinde über die bestehenden Regeln und Grenzen definiert und nach einigen Jahren gemerkt, dass ich mehr Raum brauchte und ich mich nicht mehr einengen lassen wollte. Natürlich besteht dann die Gefahr, dass das ganze Kartenhaus des Glaubens zusammenbricht. Aber Gott weiß, was kommt und wie wir uns weiterentwickeln. Wenn wir durch Krisen mit ihm persönlich in Berührung kommen, dann verändert sich unser Leben, unsere Blickrichtung und wir wollen mehr von Gott erfahren und die anfänglichen Regeln empfinden wir nicht mehr einengend, sondern bedeutsam und als Bereicherung und Teil unserer Identität. Aber das braucht eben Zeit.
Hallo Matthias, danke für deinen Kommentar. Ja, Gott kennt unseren Weg und weiß, was wir brauchen. Und manchmal braucht es vielleicht auch den Zusammenbruch des Kartenhauses, damit Gott das richtige Haus bauen kann? Dir weiterhin Gottes Segen, Stephanie