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Ich sehe ihn

Dienstag. Angesichts des Wetters, das Mittwoch mal wieder kippen soll, bin ich froh, gestern bis Cataeggio gelaufen zu sein. Am besten wäre zwar noch ein bisschen weiter gewesen, aber es war einfach so. Und da der Supermarkt auch nicht offen hatte, wäre es ohnehin nicht gegangen. Trotzdem wurmt es mich etwas, dass ich erst um acht frühstücken kann. Der Tag, der vor mir liegt, ist lang und hat es in sich. Je früher ich loskomme desto besser.

Das Frühstück ist super und auch im Supermarkt bekomme ich fast alles, was ich brauche: Brötchen, Müsli, Käse, einen Apfel. Nur Müsliriegel gibt es nicht, dafür nehme ich Kekse mit. Und ich kriege außerdem ein richtig schönes Lächeln von den zwei italienischen Verkäuferinnen. Die Freundlichkeit springt auch ohne Worte sofort über und tut gut. Kurz vor neun bin ich endlich zum Abmarsch bereit. Heute liegt die letzte Bergkette vor mir – ich muss 2000 Meter hoch. Ein bisschen graut mir davor. Ich ahne auch, dass es wieder ein einsamer Weg wird, der eventuell nicht gut ausgeschildert ist. Das Einsame ist mir willkommen, Sucherei eher nicht. Und Sucherei auf 2500 Metern Höhe schon gar nicht.

Das Problem an dieser letzten Bergkette ist auch, dass kein Rifugio gut erreichbar ist bzw. es auch nur eins gibt. Von Cataeggio brauche ich dorthin zehn Stunden und plane deshalb eher eine Zeltnacht. Aber ich muss sehen, wie ich vorankomme. Ich will mich auch nicht hetzen. Zugleich weiß ich, ich brauche allein sechs Stunden, um über den Pass zu kommen. Wie wird es werden?

Ich stapfe also los. Wie erwartet sind die Wege nicht eins A und man sieht, dass hier nicht viel Begängnis ist, aber ich komme voran und es ist keine Sucherei. Der Weg zieht sich in einem schmalen Tal hoch, dicht bewaldet. Anfangs laufe ich durch Esskastanienlaub, später Birkenlaub, zwischendurch immer wieder Nadelwald. Der Bach rauscht durch das enge Tal bergab, mein Weg führt ziemlich schnurgerade und steil daran hinauf. Ich komme gut ins Schwitzen und muss über meinen Satz von neulich lächeln, ich würde weniger schwitzen. Tue ich wohl doch nicht. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, es ist heute echt warm und schwül.

Erste Zwischenziele sind immer mal wieder Almen. Dann weiß ich, ich hab wieder zweihundert Höhenmeter geschafft. Als mir die erste Alm nur eine Höhe von 1050 Meter anzeigt, bin ich schwer geschockt. Ich bin jetzt schon fertig. Naja egal, Schritt für Schritt weiter. Die nächsten Almen, die ich bergauf erreiche, bestehen nur noch aus Ruinen alter Stein-auf-Stein-Häuser. Es ist fast gruselig und ich bin froh, dass ich weiterziehen kann.

Weiter oben kommen zunehmend Wiesen und jetzt beginnt die Sucherei. Die farbigen Wegzeichen auf den Steinen sind zu alt und blass, das Gras steht zu hoch. Fast an jeder Markierung, wenn ich sie denn gefunden habe, bis zur nächsten, verlaufe ich mich. Zum Glück hat jemand immer wieder Steintürmchen gebaut, die mir den Weg weisen. Es ist mühsam und ich hoffe, weiter oben im wirklich felsigen und anspruchsvollen Gelände sind die Markierungen besser zu sehen.

Ziel für meine Mittagspause ist der Lago di Spluga, der kurz vor dem Pass liegt. Ihn erreiche ich am Ende doch schneller als gedacht und packe froh mein Essen aus. Es schmeckt und diese Pause gegen zwei Uhr hab ich mir auch echt verdient. Dennoch hält es mich nicht lang dort. Ich merke, ich will weiter, über den Pass.

Schon kurz nach dem Losgehen verliere ich die Wegmarkierung. Das kann ja heiter werden. Ich befinde mich an einem Steilhang voller Blockwerk und Wiese. Also improvisieren, per GPS die Richtung halten und hoffen, den Wanderweg bald zu kreuzen. Ich muss hoch 200 Meter auf den Pass, die Richtung ist klar. Den Wanderweg finde ich trotz allem Suchen nicht und hoffe nur, dass es oben am Pass den Anschlussweg gibt. Dann peile ich mich durch Geröll und Wiese, klettere über Steine und hoffe einfach, dass ich heil oben lande. Das Gelände sieht zum Glück so aus, dass ich es mir zutraue, auch wenn es steil ist. Es ist wohl meine „Abschlussprüfung“ hier.

Kurz vor dem Pass kreuzt plötzlich doch der Wanderweg. Anders als in sämtlichen meiner Karten eingezeichnet ist er nicht direkt hochgelaufen, sondern links herum. Ich ärgere mich. Und bin erleichtert, denn dann geht der Weg oben wohl auch weiter.

Am Pass setze ich mich erst mal ins Gras. Es ist halb fünf. Geschafft! Die 2000 Höhenmeter für heute. Und die circa 25000 Höhenmeter der letzten Wochen. Jetzt geht es nur noch runter. Eigenartig. Und schön. Ich merke, ich freue mich jetzt auf den Abstieg, bin entspannt, der Weg sieht in Ordnung aus. Mal schauen, wie weit ich heute noch komme.

Ich habe gehofft, oben am Pass den Comer See zu sehen. Ich sehe ihn nicht, trotzdem ist die Aussicht schön. Das Tal vor mir ist grün; auch blinkt mir ein See entgegen. Lang bleibe ich nicht oben sitzen; ich will weiter. Kaum bin ich eine Viertelstunde gelaufen, sehe ich ihn plötzlich vor mir: den Comer See. Urplötzlich ist er da, breitet sich vor mir aus, ich kann die Uferlinien klar erkennen, die Berge dahinter. Ich muss stehenbleiben, ein Foto machen. Und den Moment teilen: Mein Mann kriegt die freudige Nachricht und ein Foto.

Und ich, ich bin stolz. Plötzlich ist es so klar, dass ich den Weg schaffen werde. Plötzlich hat sich auch dieser blöde, lange Aufstieg von heute gelohnt. Gibt es eine schönere Art, sich seinem Ziel zu nähern?

Kurz nach fünf erreiche ich ein Schild, das mir das nächste und einzige Rifugio mit zweieinhalb Stunden Weg ankündigt. Ich beschließe, was mir eigentlich schon klar war, zumal das Wetter mitspielt: Ich will meine letzte Nacht, meinen letzten Abend in den Bergen draußen verbringen und einfach nur für mich sein. Zum Rifugio ist es mir zu weit; der Tag steckt mir in den Knochen. Also laufe ich weiter und halte Ausschau nach einem Schlafplatz.

So richtig bietet sich erst einmal nichts an. Das Gelände ist zu steil oder zu steinig. Kurz vor einer Alm finde ich ein Grasstück, aber so richtig sagt es mir nicht zu. Ich hätte gern Aussicht auf den Comer See; von dort sehe ich ihn aber nicht. Ich gehe weiter; überlege kurz, ob ich an der Alm … sie scheint verlassen. Aber einladend ist sie nicht; bis vor kurzem waren hier Kühe, es ist alles zertrampelt, kein Gras. Und ich weiß nicht, ob hier heute oder morgen jemand auftaucht. Also weiter.

Überall Felsen, dazwischen Gras. Ich finde eine kleine, ebene Stelle zwischen Felsen. Mit Blick auf den Comer See. Wie ich das Zelt allerdings fixieren soll, ich denke lieber nicht darüber nach, sondern lege mich auf mein gefundenes Fleckchen und genieße die Aussicht. Es ist sechs Uhr. Es tut so gut, einfach nur rumzuliegen!

Nach meiner letzten Erfahrung mit Wildzelten bin ich etwas vorsichtig. Ich hoffe, dass niemand mir meinen Platz streitig macht. Aber ich liege auch gut versteckt. Gegen acht, nachdem ich mich in meine Nachtgarderobe geworfen habe, versuche ich, das Zelt aufzustellen. Es muss einfach gehen! Wie vermutet sind die Heringe das Problem. Ich kann nur die Hälfte verankern, aber immerhin. Das Vorzelt kann ich auch nicht aufspannen. Improvisieren ist gefragt. Ich spanne es von innen her mit meinen Wanderstöcken auf. Am Ende steht das Zelt und wenn kein Sturm kommt … Gegen halb neun krieche ich hinein. Bis dahin habe ich noch ausgiebig die Aussicht genossen, aber jetzt sind Berge und See im Dunkel verschwunden. Nur die Lichter vom Comer See leuchten mir noch entgegen. Vielleicht schon morgen werde ich da sein.


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


2 Gedanken zu „Ich sehe ihn“

  1. manche schauen tatort, manche lesen zeitung, manche backen kuchen und noch ganz andere, die leseyunkees gieren nach der alpentour und so lief ich tag um tag mit dir mit – ich sah die unwirkliche färbung des himmels neben den wolkengebirgen, roch die feine luft, begeistert tunkte ich füße und hände in die kalten, klaren bachläufe, sah murmeltiere um die ecken pfeiffen und kuhglocken läuten, habe mit dir geschwitzt und geschimpft, gebangt – und gestaunt… nur gestern ist ingbert murmelnd und mir einen vogel zeigend abgedampft, als ich triumphierend rief: Sie sieht ihn, es ist geschafft!!!
    Ich werde wegen meiner neurologischen erkrankkung nie wieder grosse spaziergänge oder wanderungen machen können und so habe ich diese reise sehr genossen und dafür danke ich dir sehr. bewahre dir diese fähigkeit zum staunen und schreiben, sie ist wunderbar und ein geschenk.
    ich grüße dich herzlich, stephanie du liebe

    1. Liebe Sabine, schön, dass du mit mir unterwegs warst und es mir ein bisschen gelungen ist, dich mitzunehmen. Manches ist so schwer zu beschreiben. Heute sind meine Füße nun angekommen; der Rest ist noch dabei. Ich bin dankbar und weiß (fast) am Ende meiner Reise noch mehr als zu Beginn, dass alles nicht selbstverständlich war und ist. Ganz liebe Grüße, danke für deinen Kommentar und dir weiterhin alles, alles Gute!

Danke für deinen Kommentar.

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