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Italien auf der Spur

Der Sonntag beginnt ruhig, mitten im Wald. Gegen sieben schäle ich mich aus meinem Zelt. Draußen ist es kühl, daher habe ich den Schlafsack noch eine Weile genossen. Als ich die Reißverschlüsse öffne, strahlt die Sonne schon die Bergspitzen gegenüber an. Gestern Morgen waren sie noch weit weg, jetzt liege ich ihnen gegenüber.

Mein Zelt ist fast trocken, dass ich nur kurz das Handtuch bemühe und es dann schon zusammenfalten kann. Vorher die Isomatte raus und all meinen Kram drauf. Bewährtes Konzept. So bleibt alles trocken und sauber und ich kann in Ruhe sortieren und packen. Die Isomatte kommt dann ganz zum Schluss unten an den Rucksack.

Das Frühstück vertage ich auf später. Ich habe noch keinen Hunger und zum Sitzen ist es zu kühl. Weiter unten hole ich es dann nach. Ich habe noch Haferflocken mit Schokolade dabei, getrocknete Äpfel. Dazu ein bisschen Wasser. Den Luxus mit Joghurt gibt es heute nicht. Aber ich freue mich auf die Haferflocken; das letzte Frühstück hat mir nur Weißbrot beschert.

Heute geht es zum Rifugio Bosio. Ich laufe gern los, weiß, dass ich heute gut vorankommen werde, endlich ins nächste Tal schauen kann. Die Etappe heute ist mit 15 Kilometern und 900 Höhenmetern dennoch überschaubar. Ich rechne mit fünf bis sechs Stunden, bin entspannt. Erst wird’s runtergehen, dann hoch.

Nachdem ich eine Viertelstunde gelaufen bin, komme ich durch eine Siedlung. Noch ist alles ruhig. Auch die Italiener lieben wohl ihren Sonntag. Ein Bauer ist schon auf, spricht mich an, fragt mich, wohin ich gehe. Ich kann seine Frage deuten, nenne ihm mein Ziel. Er weist in die Richtung und nickt anerkennend. Ich wünsche einen schönen Tag und ziehe weiter. Es ist nur ein kurzer Austausch. Keiner von uns spricht die Sprache des andern. Dennoch haben wir uns verstanden und ich bin dankbar für diese Begegnung.

Überhaupt komme ich Italien heute ein bisschen näher. Bis ins Tal komme ich immer wieder an alten, italienischen Alphäuschen vorbei. Sie sind wunderschön Stein auf Stein geschichtet, passen in die Kulisse der Berge. Jedes Haus ist einzigartig, kein Stein gleicht dem andern. Und doch sind sie passend aufgeschichtet, bilden zusammen ein Haus. Häuser dieser Art muss man bauen können, jeden Stein überlegt auflegen. Wie anders und seelenlos sind dagegen unsere Fertighäuser. Immer wieder mache ich Fotos, freue mich an diesen eigentlich bescheidenen Häuschen. Und an zwei Eseln, die mir neugierig entgegenschauen.

Mein Weg führt mich heute auch durch Primolo. Auf der Landkarte ist es einfach eine Ortschaft, aber der Weg, den ich geführt werde, führt mich direkt durch den alten Ortskern. Und wieder Steinhaus an Steinhaus, nur diesmal dichter aneinander. Enge Gassen, alte Holztüren, Dächer aus Stein, niedliche Schornsteine, der Kirchturm – und mittendrin begegne ich ein paar Hühnern, die ihren Spaziergang machen. Was für ein Bild. Ich genieße, was ich sehe, bewundere. Es ist mir eigentlich fremd, aber grad so vertraut und nah. Ich könnte jedes Haus umarmen.

Danach beginnt der Anstieg für heute. Neunhundert Meter, eigentlich drei Stunden, aber ich merke, mittlerweile bin ich zügiger, schwitze ich weniger. Ich nehme mir trotzdem Zeit, genieße den Waldweg und auch den Pfad, der in die Höhe führt. Auch dieser Weg führt mich immer wieder an Almen vorbei. Man merkt, dass heute Sonntag ist und schönes Wetter: jedes Häuschen ist bevölkert. Es scheint mir, als habe jeder Italiener in der Gegend hier so ein „Wochenendhäuschen“. Richtige Almwirtschaft betreiben viele nicht mehr, an denen ich heute vorbeikomme. Sie genießen einfach die Aussicht und ihren Platz am Berg.

Je weiter ich hochkomme, desto mehr sehe ich plötzlich auch wieder die Berge der Bernina. Sie begleiten mich schon seit meinem Weg nach Poschiavo, sind aber mit ihren 4000 Metern so mächtig, dass man sie weithin sehen kann. Ihre Gletscher vor dem blauen Himmel sind beeindruckend anzusehen. Immer wieder drehe ich mich um, mache Fotos.

Gegen drei bin ich schon am Rifugio, freue mich auf den freien Nachmittag. Endlich ist es mal wieder ein klassisches mit Mehrbettzimmern, großem Schuhregal, Wäscheleine vor der Tür … Die nutze ich auch gleich, denn die letzten Tage war es mit Waschen schwierig. Außerdem liegt das Rifugio wunderschön am Ende eines Hochtals mit zahlreichen Bachläufen, dekoriert mit großzügig verteilten Steinbrocken auf der Wiese. Andere haben die Idee auch, ich schließe mich an und suche mir einen schönen, großen Stein am Wasser, auf den ich mich setze und mich von der Sonne bescheinen lasse.

Noch vier Tage bis zum Comer See. Morgen werde ich die vorletzte Bergkette überqueren, ins letzte Tal absteigen. Dann noch einmal rauf – und dann bin ich da. Ein eigenartiges Gefühl. Lange habe ich Karten und Wege studiert. Wie schnell bin ich es am Ende gegangen! Viele Wege habe ich mir vorgestellt. Die Realität war ganz anders! Und immer wieder überraschend.

Ich sitze noch am Bach auf meinem Stein. Die Sonne wärmt mich. Ich genieße. Bin dankbar für diesen wunderschönen Ort und dafür, dass ich hier sein darf. Ab und zu springt ein Fisch neben mir aus dem Wasser und erinnert mich auf seine Weise ans Hier und Jetzt. Und irgendwie passt es, dass gerade hier kein Netz und Internet ist. Der Text muss und darf warten. Und ich, ich darf einfach hier sein.


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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