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Murmels

Ich sitze gerade an einem plätschernden Bach. Meine Füße sind frisch gekühlt – so angenehm! – und meine Wasserflasche endlich wieder aufgefüllt. Dank meines Wasserfilters kann ich überall bedenkenlos tanken. Ich spüre nur, je südlicher ich komme, dass längst nicht alle Wasserläufe Wasser führen, die in der Karte eingezeichnet sind. Die Trockenheit macht sich auch hier bemerkbar und auf nicht wenigen Hütten wurde immer wieder aufgerufen, Wasser zu sparen. Aber hier und jetzt habe ich Glück.

Ich habe mich auf den Tag heute gefreut. Endlich wieder ein Fußtag! Einfach nur laufen, keine Transfers. Wieder ins Laufen kommen. Der Tag gestern war schön, aber irgendwie kam mir mein Rucksack schwer vor und trotz Ruhetagen kamen meine Knochen nur schwer in Schwung. Vielleicht war es auch ein bisschen die Höhenluft? Oder dass mein Laufstart gegen zehn einfach schon zu spät war?

Heute ist es anders. Mein Wecker klingelt um sechs, dann nehme ich mir Schreibzeit, kurz vor sieben Frühstück und halb acht stehe ich startklar vor dem Hotel. Es ist schon sonnig, unter mir sind die Wolken. Ich laufe gemächlich los, bin irgendwie gut drauf. Morgenluft tut mir einfach gut. Sie ist noch herrlich frisch und unverbraucht. Und ich liebe einfach die Stille und Einsamkeit am Morgen, wenn noch keiner groß unterwegs ist.

Ich weiß, dass ich heute nicht viele Menschen treffen werde. Das beflügelt mich. Die meisten, die oben am Joch geschlafen haben, sind Biker. Im Rifugio Garibaldi sind es höchstens sechzehn. Der Morgen gehört also mir!

Ich stapfe los, gemütlich, langsam, fast vor mich hinträumend. Da ich gemächlich absteige, lande ich bald in den Wolken. Es stört mich nicht, passt zu meinem Ruhemodus. Gestern habe ich genug gesehen! Auch sind die Wolken nicht so dicht, dass der Weg nicht erkennbar ist. Ich hänge meinen Gedanken nach, frage mich, warum ich meine morgendliche Gelassenheit nie den ganzen Tag halten kann. Irgendwann springe ich immer auf Hektik auf. Warum? Leben aus der Ruhe ist eine Kunst, die ich nicht beherrsche. Vielleicht auch wegen der bekannten Angst zu verpassen. Aber ist das nicht letztlich auch Gier, die mich da antreibt? Warum kann ich nicht einfach der Ruhe trauen. Aber vielleicht sind es auch Phasen. Ein Morgen hat seine eigene Ruhe und Stimmung.

Heute pfeifen mir ständig Murmeltiere entgegen. Nachdem ich das zwanzigste gesehen und gezählt habe, lasse ich das Zählen. Ich bin wohl voll in ihre Welt eingedrungen. Aber sie lassen mich ziehen, beäugen mich neugierig bis misstrauisch. Ich staune, wie sehr sie mir ins Gesicht gucken, statt sich in ihr Loch zu verziehen. Ich mag sie und heute sind sie meine Gefährten.

Ich steige über einen Grat und dann ab ein langes Tal. Es schlängelt sich wunderschön und jeder Abschnitt ist anders. Von 2500 bis 2000 Höhenmeter ist es felsig. Auch heute wieder laufe ich an Stellungen aus dem Ersten Wektkrieg vorbei. Hier in der Ecke begegnen sich Österreich, Italien und die Schweiz. Krieg in solch schöner Umgebung, es ist kaum vorstellbar.

Später wird das Tal grüner. Wasser findet seinen Weg durch eine Schlucht herab. Ich komme an einer bereits verschlossenen Alm vorbei. Hier oben ist der Sommer also schon zu Ende. Es bestätigt mein Gefühl der letzten Tage, macht mich wehmütig. Manchmal ist Rückzug dran, denke ich. Grenzen erweitern, ist gut, aber manche Grenzen sind gesetzt. Almen räumt man zum Herbst. Wenn man schlau ist, treibt man das Vieh rechtzeitig ab. Vielleicht ist es im Leben genauso. Nicht immer geht alles. Grenzen erkennen, annehmen und aufhören, gegen Mauern zu rennen. Ich renne noch viel zu oft dagegen, denke, ich müsste, sollte.

Mittagspause will ich eigentlich am Lago di Cancano machen, einem Stausee mit türkisem Wasser. Und eigentlich will ich heute Mittag etwas Warmes essen, weil ich mich heute Abend selbst verpflege. Es klappt nur nicht. Am einzigen Restaurant renne ich vorbei, weil mir die Speisekarte auf Italienisch Angst einjagt, und alle anderen, die ich dann doch mutig anlaufe, haben geschlossen. Klar, die Hauptsaison ist vorbei. Also sitze ich mit Brot und Apfel im Gras, ärgere mich über mich und meine Angst vorm Italienisch und hoffe, dass die nächsten zwei Wochen mein Italienisch zu- und meine Hemmung abnimmt. Leider ist es dann auch noch so kalt, dass ich bald wieder aufbreche, obwohl meine Füße definitiv eine längere Pause bräuchten.

Wie schnell meine Laune doch im Keller ist! Wo ist meine Gelassenheit von heute Morgen nur hin? Manchmal bin ich echt wie eine Fahne im Wind. Eigentlich könnte ich doch zufrieden sein …

Ich laufe weiter, der Weg ärgert mich, denn er geht ziemlich steil und steinig bergab. Ich muss zusehen, dass ich nicht rutsche. Müde Füße rutschen sehr viel lieber als ausgeruhte. Leider. Ich bin etwas bedient. Was so aus einem total schönen Tag werden kann.

Und dann fällt mir der Bach vor die Füße. Inzwischen scheint auch wieder die Sonne und da ich tiefer bin, ist es ohnehin wärmer. Also lasse ich mich spontan ins Gras fallen, befreie meine Füße, hänge sie ins Wasser. Wie schnell es einem wieder gut gehen kann!

Nachher habe ich noch eine Stunde zu laufen, dann habe ich mein Ziel für heute erreicht. Mein Bett für morgen im Rifugio ist auch schon gesichert. Und dann, mal schauen! Bis jetzt komme ich gut voran und staune, wie schnell meine Füße mich über die Berge tragen. Plötzlich erscheint mir auch der Comer See denkbar, erreichbar. Bisher hatte ich ihn irgendwie ausgeblendet. Aber jetzt bin ich im Grunde auf direktem Weg dorthin. Den größten Teil der Strecke habe ich geschafft.

Es ist gut, dass noch ein bisschen Zeit zum Ziel ist. Ich mag das Laufen gerade und der Alltag wird mich noch früh genug einholen. Ich will es schätzen, was ich hier grad erlebe. Es ist zwar nicht immer alles toll, aber es ist ein Privileg und ich bin dankbar dafür.


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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