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Stolpern nach Italien

Heute Morgen kam ich raus aus der Hütte und musste erst mal staunen über den Morgenhimmel. Die Bergketten gegenüber waren sanft mit gelbem Licht beleuchtet, wir noch im Schatten. Wie friedlich die Welt aussehen kann … Nach dem Frühstück ging’s dann gleich in die Wanderschuhe. Größte Herausforderung für heute: die Alpeiner Scharte. Da sie bei der Geraer Hütte fast direkt vor der Haustür liegt, hatte den Effekt, dass ich dachte: Wenn ich da drüber bin, wird der Rest des Tages leicht.

In gewisser Weise war dem auch so. Aber ich merkte schon früh, der lange Tag gestern steckt mir in den Knochen. An eine Scharte sollte man frisch gehen. Soviel zur Theorie. Die 600 Meter Aufstieg begannen wir als Vierergruppe. Immer mal ein anderer vorn. Der erste Teil des Weges normales Steigen, normal anstrengend. Weiter oben wurde der Weg zunehmend geröllig, steinig, haltlos, steil. Das ist nicht mehr mein Gelände, ich weiß es. Jetzt ist Aufpassen gefragt. Und wieder Schritt für Schritt. Ich spüre, wie mich der Abschnitt anstrengt, verfluche, dass ich gestern zu viel gelaufen und gestiegen bin. Gefühlt sind alle anderen trittsicherer unterwegs. Oder scheint es nur so? Die anderen keuchen auch, aber ich weiß, heute ist nicht die Kondition mein Problem. Heute muss ich einfach nur aufpassen auf meine müden Füße.

Ich atme auf, als ich heil oben bin, schicke ein Danke gen Himmel, staune über den Weitblick und blicke gespannt auf den Abstieg. Scharten sind anders als Sattel. Sie fallen auf beiden Seiten steil ab. Wenn man oben ist, muss man noch runterkommen. Normalerweise sind die Aufstiege leichter. All das geht mir durch den Kopf, als ich Müsliriegel futtere. Interessanterweise holt jeder, der oben ankommt, irgendein Energiefutter aus der Tasche. Gemeinsam knabbern wir Kraft in uns hinein. Offensichtlich war der Aufstieg für alle ein Kraftakt. Und wir alle wollen ja auch wieder gut wieder runter.

Nachdem die ersten zwei Pärchen in die Tiefe abgetaucht sind, packe auch ich meinen Kram zusammen. Ich will ganz in Ruhe machen, aber ich weiß, wenn ich noch lang auf 2900 Metern sitze, wird es kalt. Zumal heute wieder Frost war. Wir sind ohnehin alle mit Mützen und Handschuhen bewaffnet. Und ich weiß, je länger ich warte, desto mehr Zeit bleibt zum Fürchten. Also los. Ruhe und Riegel haben gut getan, ich nehme meine Stöcke, gucke nur auf den Weg, steige ab. Schritt für Schritt. Ich bin froh, dass niemand hinter mir ist, ich mir alle Zeit der Welt nehmen kann. Im Gehen merke ich, dass es geht. Den Aufstieg empfinde ich auch später als schwieriger, trotzdem ist der Abstieg nicht ohne. Ich bin froh, als ich auf normalen Bergwegen lande. Und weiß, noch mal brauche ich sowas nicht. Vielleicht war die Erfahrung heilsam. Vielleicht wäre ich an einem anderen Tag aber auch frischer gewesen.

Was jetzt an Weg folgt, hatte ich mir eigentlich entspannt vorgestellt. Ein kilometerlanger Höhenweg Richtung Pfitscher Joch ohne großes Auf und Ab, nur Bombenaussicht. Ich hatte wohl vergessen, dass ich im Hochgebirge unterwegs bin auf 2500 Metern. Der Weg entpuppt sich in der Tat als aussichtsreich und ohne viel Höhenmeter. Allerdings besteht er fast ausschließlich aus Felsbrocken, die an vielen Stellen fußungünstig liegen. Die Kilometer, die ich schrubben wollte, werden zur Kletterei und Hüpferei. An manchen Stellen sind die Felsen fußfreundlich oder stufig geschichtet, an den meisten sind aber meine Füße gefragt. Kurz, der Weg ist mühsam, nimmt kein Ende, meine Füße haben keine Lust mehr. Ich stolper und holper vor mich hin, die Stöcke kann ich auch kaum zur Unterstützung nehmen. Und der tolle Ausblick ist mir schon lang egal. Ich will nicht mehr! Warum mach ich das hier eigentlich? Quälerei mit Aussicht.

Da ich allein unterwegs bin, interessiert das keinen. Also weiter. Das Alleinsein hat aber tatsächlich den Vorteil, dass man lautstark vor sich hinschimpfen und herumlamentieren kann. Und das tu ich auch! Bis zur italienischen Grenze, danach wird der Weg besser.

Nach einer gefühlten Ewigkeit oder genauer nach sieben Stunden ist endlich der Ort in Sicht, wo ich heute Nacht mein Zimmer habe. Oh, wie werde ich es genießen! Und die Dusche!

Nachdem ich mich und meine Klamotten gewaschen habe, liege ich im Bett, fühle mich wie eine alte Frau. Dass ich morgen weitergehen werde, ist noch weit weg. Ich will nicht daran denken. Der Tag heute ist trotz grandioser Aussicht mein Tiefpunkt. Irgendwie habe ich mir alles idyllischer vorgestellt, entspannter. Ich dachte, ich würde neben ein bisschen Schweiß von einem Höhepunkt zum nächsten schweben.

Vielleicht ist es gut so. Vielleicht bin ich in der Realität angekommen. Ja, die Berge sind toll und beeindruckend, aber heute waren sie definitiv eine Nummer zu groß für mich.

Abends esse ich italienische Nudeln mit Tomatensauce und Parmesan, schütte mir noch eine extra Ladung Olivenöl drauf, das gibt Kraft, und danach sieht die Welt schon wieder anders aus. Morgen wird zwar auch ein ganz schöner Marsch, aber nichts Dramatisches. Die Berge gen Süden sind grüner, freundlicher. Und ich freue mich auf die Nacht in einem richtigen Bett.


Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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