Vor unserem Haus steht ein Ahorn. Es leuchtet wie jedes Jahr in Farben, die sich nur ein Herbst ausdenken kann: warmes und kühles Rot, Orange, dazwischen Grün. Im Hintergrund strahlt der Himmel in klarem Herbstblau. Und als ob das nicht genug wäre, wirft sich die Sonne mit ihrer Kunst auch noch dazwischen, malt Schatten, durchleuchtet.
Herbst hat viele Gesichter. Er kann neblig und grau sein, er kann strahlen. Vor allem aber läutet er Veränderungen ein, macht ordentlich Wirbel. Und er ist die Jahreszeit, die mir immer wieder das Thema Loslassen um die Ohren weht. Auch dieses Jahr.
Seit ein paar Tagen geistert mir das Wort durch den Kopf, taucht beim Schreiben auf, stellt sich mir in den Weg. Loslassen. Ich weiß, ich bin Festhalterin. Ich habe immer gern alles ganz klar und greifbar. Die Taube auf dem Dach reicht mir nicht. Ich will den Spatz in der Hand. Sicher ist sicher und Warten und Werdenlassen nicht meine Stärke.
Was wäre, wenn ich loslassen könnte? Loslassen wie ein Herbstblatt.
Ich denke an meine berufliche Zukunft. Ich denke aber auch an Lebensmuster, Ängste, Antreiber. Was wäre, wenn ich meine Angst loslassen könnte, etwas zu verpassen, meine Versuche, mich zu beweisen, meinen Anspruch, alles perfekt und möglichst schnell zu erledigen? Was wäre, wenn ich einfach nur wäre und Schritt für Schritt ginge auf meinem Weg?
Wie viel leichter würde ich an alles herangehen. Wie viel leichter würde ich Erfolg und Scheitern nehmen. Wie viel leichter täte ich mich in Beziehungen. Vieles wäre auf einmal unwichtig. Nichts könnte an meinem Ego kratzen, meine Minderwertigkeitsgefühle wären out, meine Zweifel ohne Futter. Ich würde tun, was ich will, egal was andere denken.
„Dein Wille geschehe.“ Jesus betet es. Neulich dachte ich: Das ist eine Einladung. Oft habe ich den Satz anders gehört, als Ausdruck der Unterwerfung und als Ausdruck dessen, dass Gott am längeren Hebel sitzt und ich mich fügen muss, soll, darf. Aber angenommen, der Satz wäre eine Einladung. Meine Einladung an Gott – und Gottes Einladung an mich: Überlass es mir! Überlass dich mir!
„Dein Wille geschehe.“ Wenn ich weiß, was ich will, kann dieser Satz zur Herausforderung werden. Wenn die Dinge im Leben aus dem Ruder laufen, erst recht. Ich denke an unseren unerfüllten Kinderwunsch. Die meisten unserer siebzehn Ehejahre waren geprägt davon. Das „Dein Wille geschehe“ gehörte nicht zu meinem Standardgebet. Ich wollte es nicht hören, denken, aussprechen. Inzwischen habe ich mich damit arrangiert, lange genug gekämpft, gehofft, geweint. Habe ich mein „Dein Wille geschehe“ dazu gefunden? Ich bin mir nicht sicher, auch wenn ich spüre: So wie es ist, ist es auch gut; ich bin, wir sind gesegnet.
„Dein Wille geschehe.“ Mit diesem schweren und mutigen Satz, der immer wieder Überwindung kostet, kann ich Gott eine Tür aufmachen, ihm den Raum überlassen, loslassen. Ich muss gestehen, meistens spreche ich ihn erst dann aus, wenn ich ohnehin keine andere Wahl habe und meine Not längst zum Himmel geschrien hat.
Überlass es mir. Überlass dich mir.
Ich sitze im Gras zwischen zwei Feldern. Die Luft riecht nach Erde. Der Wind weht mir durchs Haar. Ab und zu fliegt ein Vogelschwarm vorbei, lässt sich fallen, steigt wieder auf. Gerade klettert mir ein Käfer über den Ärmel. Ein mutiger Geselle! Mit seiner orangen Zeichnung ist er ein echter Herbstkäfer. Ich schicke ihn zurück ins Gras. Weiter vorn klackern die Eicheln im Rhythmus jedes Windstoßes vom Baum. Herbst. Die Natur macht mir das mit dem Loslassen vor. Wo Eicheln fallen, kann im nächsten Jahr Neues wachsen.
„Lass los. Überlass dich mir.“
Was wäre, wenn ich es täte? Was wäre, wenn ich mich wirklich hineinfallen ließe in Gottes Schoß und seine guten Gedanken über mich?
Ich atme aus. Es ist eine schöne Vorstellung. Mehr als nur ein Gedankenspiel.
Stephanie Kelm
ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.