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Gott bemerkt es

Meisen fliegen gegen Fensterscheiben, Menschen rennen gegen Mauern. Gott bemerkt es, wenn wir am Boden liegen, auch wenn uns niemand sonst sieht.

Erste Hilfe am Morgen

Es ist acht Uhr morgens. Ich sitze an meinem Schreibtisch. Plötzlich gibt es einen dumpfen Schlag an der Balkontür hinter mir. Ich ahne, was es ist, mag erst gar nicht aufstehen. Ich will jetzt keinen sterbenden Vogel sehen.

Ich stehe trotzdem auf. Im Idealfall sehe ich gar nichts und der Vogel hat sich aufgerappelt und ist weitergeflogen. Als ich durch die Balkontür schaue, sehe ich den Unglücksvogel allerdings. Er liegt auf der Seite ohne große Bewegung. Es ist eine kleine Meise.

Sie hat noch ganz weichen Flaum, aber offensichtlich kann sie schon fliegen. Jetzt liegt sie aber erst mal am Boden. Ich entdecke ein wenig Bewegung in ihrer Flügelspitze. Wird sie es schaffen? Ich hole ihr ein bisschen Wasser – und bete, dass sie es schafft.

Als ich mit Wasserbecher und Teelöffel wieder zurückkomme, sitzt sie. Ich bin überrascht und erleichtert. Vielleicht muss ich heute doch keinen Vogel begraben. Vorsichtig nähere ich mich der kleinen Meise mit dem Teelöffel voll Wasser, tauche ihren kleinen grünen Schnabel sanft hinein.

Sie regt sich nicht. Dafür geht ihr ganzer Körper mit ihrem Herzklopfen mit. Offensichtlich sitzt ihr der Schreck noch in den Gliedern. Ich lasse sie mit dem Wasser allein und ziehe mich zurück. Vielleicht kann sie ja weiterfliegen, wenn sie sich ein bisschen ausgeruht hat?

Gott sieht die Meise

Im Neuen Testament gibt es einen Text, der von Vögeln redet, die vom Himmel fallen. Und davon, dass Gott es bemerkt: „Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.“ (Matthäus 10,29)

Ich glaube, dass das mit den Sperlingen nicht nur ein netter Vergleich ist. Ich glaube, dass das genau so ist, wie es dasteht: Gott sieht jeden großen und kleinen Vogel, der zur Erde fällt. Selbst wenn es lautlos geschieht. Selbst wenn es niemand bemerkt. Er bemerkt es.

Ich bin also nicht die Einzige, die sich heute Morgen um die kleine Meise sorgt. Gott hat sie auch bemerkt.

Gott sieht mich

Kleine Meisen und Menschen. Ich fliege zwar nicht gegen Balkontüren, will aber auch immer mal mit dem Kopf durch die Wand und wundere mich dann, wenn ich am Boden liege. Oder bin verärgert, wütend, traurig. Fühle mich verlassen, vergessen.

Aber ich bin es nicht. Selbst wenn es niemand gesehen hat, ER hat es bemerkt. Und er leidet mit mir so wie ich mit der kleinen Meise. Er wünscht mir, dass ich bald wieder fliegen kann, und feiert es, wenn ich wieder sitze.

„Ihr seid kostbarer als viele Sperlinge“, geht es im Bibeltext weiter. Zwei Sperlinge kosten einen Groschen. Ich bin kostbarer als viele Sperlinge. – So ganz gefällt mir dieses Bild nicht, denn für mich ist ein kleiner Vogel auch wertvoll. Sind wir nicht alle Geschöpfe?

Gute Wünsche

Meine kleine Meise sitzt vor der Balkontür, ich sitze wieder am Schreibtisch. Wenig später höre ich lautes Meisenpiepen. Jetzt hat sie ihren Schnabel weit aufgerissen. Ob sie Hunger hat?

Und dann ist es auf einmal still. Als ich das nächste Mal schaue, ist ihr Platz leer. Nur der Teelöffel mit dem Wasser liegt noch da und zeugt von unserer kurzen Begegnung.

Fast ist es wie ein kleines Geheimnis zwischen Gott und mir, was wir da gerade erlebt haben. Niemand sonst auf dieser Welt hat heute Morgen diese junge Meise beobachtet, sich um sie gesorgt. Nur Gott und ich.

Und niemand sonst auf dieser Welt hat sich heute Morgen über diese Meise gefreut wie wir, als sie weitergeflogen ist. Und ihr im Stillen einen guten Flug gewünscht.

Danke Gott, dass du jede kleine Meise siehst. Danke, dass du mich siehst.

Foto: pixabay | Ursula di Chito


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Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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