Zunächst sehe ich nur die Schnecke. Doch je länger ich ins Moos schaue, desto mehr eröffnet sich mir eine eigene Welt. Sie stellt mir Fragen.
Sie kriecht über den bemoosten Stamm und ich kann nicht widerstehen. Ich muss sie fotografieren. Durch das Display meines Handys verfolge ich ihre Bewegungen, warte, bis sie ihre Fühler wieder nach oben streckt.
Natürlich macht sie das im Schneckentempo. Ich muss mich gedulden. Sie lässt sich von mir weder beeindrucken noch antreiben. (Wie macht sie das nur?)
Ich habe die braune Schönheit schon eine Weile vor der Linse, als ich feststelle: Sie ist nicht allein! Mitten auf ihrem Schneckenkopf, hinter den Schneckenfühlern, hat sich eine Blattlaus als blinder Passagier eingeschlichen.
Ob sie mit Schnecke wirklich schneller ist? Wahrscheinlich kommt es ihr gar nicht auf die Geschwindigkeit an. Schließlich ist sie kein Mensch. Keine Stephanie.
Langsam darf sein
Gerade renne ich wieder mal durchs Leben. Renne an vielem vorbei. Eigentlich wollte ich mir das abgewöhnen, aber die Schnecke zeigt mir, wie erfolgreich ich damit bin. Eindeutig durchgefallen.
Die Langsamkeit im Wald tut mir gut.
Einfach nur stehen bleiben und schauen. Vieles sehe ich erst, nachdem ich eine Weile ins Moos geschaut habe. Vor der Schnecke kämpft sich eine kleine Fliege durch die Moosstängel. Zwei Zentimeter weiter hinten versucht eine andere Blattlaus auf die Schnecke zu klettern.
Genießt die kleine Blattlaus die Aussicht vom Schneckenrücken und dass sie plötzlich ganz groß ist? Ob die Schnecke spürt, dass sie einen Passagier an Bord hat? Es scheint ihr völlig egal zu sein. Sie kümmert sich nicht um den Schwarzfahrer.
Viel kostbarer
Blattlaus und Schnecke kommen unschuldig daher, bezwecken nichts. Sie leben absichtslos, heischen nicht nach Applaus, Schönheit und Anerkennung. Sie suchen nur Nahrung und Sicherheit. Das genügt ihnen.
Reicht es mir? Meinem Gerenne nach zu urteilen, kann ich viel von Schnecke und Laus lernen. Mir eine dicke Scheibe abschneiden von ihrer Gelassenheit und Ruhe.
Mir fällt eine Predigt von Jesus ein. Da sagt er: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ (Mt 6,26)
Es ist eine rhetorische Frage, die Jesus hier stellt. Die Antwort muss noch in meinem Leben ankommen. Und die Ruhe. Danke, liebe Schnecke, und danke, kleine Blattlaus, dass ihr mich daran erinnert habt!
Fotos: Stephanie Kelm
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Stephanie Kelm
ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.