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Projekt Staunen

Ich habe mir Staunen verordnet. Ich will mehr Leichtigkeit in meinem Leben, mehr Schönheit. Also habe ich mir vorgenommen: Heute werde ich staunen.

Heute will ich staunen

Noch weiß ich nicht, worüber ich staunen werde. Ich bin gespannt.

Das erste Staunen schickt Gott für mich gleich mit der Morgensonne um die Ecke. Von meinem Schreibtisch aus blicke ich über den Balkon auf eine weiße Fassade. Und plötzlich ist sie beleuchtet. Nicht irgendwie, sondern mit echtem Morgenlicht. Ich staune über das Hellgelb, das sich so warm über die Fassade legt. So, als wollte mir der Tag „Hallo“ sagen.

Den nächsten Stauner erlebe ich beim Mittagessen. Ich war nicht sehr einfallsreich. Ich hatte noch gekochten Reis da. Den habe ich mit Zwiebeln angebraten, mit Tomaten und weißen Bohnen gemischt, mit Pizzagewürz aufgepeppt – fertig. Dazu einfach nur Tomatensalat. Aber mein Mann schaufelt sich das Essen in den Magen, als wenn es ein Festessen wäre! Unglaublich! Ich freue mich. Und staune.

Ich staune an diesem Tag noch über andere Dinge. Dass das Bezahlen mit dem Handy wirklich funktioniert (mein Mann lächelt nur darüber), wie gut mir das Singen beim Chor tut (die Lieder sind Balsam), dass es mir heute körperlich gut geht (das war die letzten Tage anders), dass mir abends im Bett noch eine gute Lösung für einen Auftrag einfällt, über dem ich gerade brüte. Kleine und große Dinge, die nicht selbstverständlich sind.

Die Esche

Mein Stauner des Tages ist allerdings der mächtige Stamm einer Esche, die offensichtlich vor einiger Zeit gefällt wurde. Sie liegt ein Stück abseits des Weges im Wald, aber ihr dicker Stamm zieht mich an. Ich muss einfach hin, mir den Stamm aus der Nähe ansehen, seine Borke anfassen.

Die Esche liegt am Boden, aber sie hat nichts von ihrer Schönheit und Anmut verloren. Wie oft schaue ich bei Bäumen vom Stamm nach oben in die Krone hinauf. Hier liegt der Baum einfach vor mir.

Was für ein Koloss! Ein Riese! Der Durchmesser des Stumpfes ist eine kleine Tanzfläche – so groß ist er. Und fast kommt es mir übermütig vor, mich einfach so auf diese vielen Jahresringe zu stellen. Wer bin ich eigentlich?

Neben dem Stumpf liegt der mächtige Stamm. Zum Umarmen ist er zu dick. Seine Borke ist rau, tiefe Rillen haben sich über die Jahre eingegraben. Wie klein meine Hand dagegen aussieht. Immer wieder fasse ich den Stamm an, fühle, staune. Ein Baum ist echt ein Wunderwerk.

Ich betrachte den Schnitt am Stamm, sehe wie dick oder eigentlich wie dünn die Rinde ist. Aber sie ist fest, ich spüre es. Die Rinde allein ist ein Kunstwerk, wie sie den Baum umschließt und sich mitschlängelt mit den Unebenheiten und Bergen und Tälern des Stammes.

Feine Maserung eines abgesägten Baumstammes
Borke eines alten Baumes
querliegender dicker Baumstamm im Wald
Baumquerschnitt, Borke und Moos

Baumstämme und Wurzeln faszinieren mich schon immer. Die Blätter sind zwar auch schön, aber meistens bleiben meine Augen bei den Wurzeln und Stämmen hängen. Dieser ist markant. Wuchtig. Kraftvoll. Schön. Wirklich zum Staunen.

Staunen ist Geschenk

Nachdenklich gehe ich nach Hause. Berührt. Dankbar. Es war eine Begegnung der besonderen Art. Sie klingt nach. Fast ist es so, als hätte ich mich damit wieder in die Schöpfungsordnung einsortiert. Ja, ich bin Mensch und ich kann viel. Aber gegen diese Esche bin ich eigentlich sehr klein, kurzlebig, ein Witz. Und meine Probleme sowieso.

Staunen macht auch demütig, ist ein Geschenk. Dass Dinge wirklich funktionieren und sich fügen, dass die Morgensonne so schön und die Eiche so anmutig ist – ich habe es nicht gemacht. Da hatte Gott seine Finger im Spiel.

Ich werde mir wohl öfter einen Stauntag verordnen. Staunen tut gut.


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Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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