Der Frühling zeigt das Leben in seiner ganzen Fülle. Wie viel ich staune – und wie viel ich übersehe! In meinem Leben mit Gott geht es mir ähnlich.
Vierzig Frühlinge habe ich sie übersehen. Ganz sicher waren sie jedes Jahr da, nur war ich blind dafür, habe eher Blumen und junge Blätter bestaunt. Dieses Jahr war es anders. Dieses Jahr habe ich sie im Wald gesehen. Keimlinge. Die Keimlinge von Bäumen.
Den ersten habe ich Mitte März entdeckt. Auf einem morschen, schon seit Jahren herumliegenden, dicken Baumstamm. Etwa drei Zentimeter groß, unbekümmert nach oben wachsend. Der schmale Stängel erstaunlich gerade, die ersten zwei Blätter noch im Roll-Modus.
Und dann entdeckte ich einen nach dem anderen. Plötzlich fiel mir auf, dass auf dem gesamten Stamm Keimlinge saßen. Überall kleine Stängel! Manche hatten die Blätter schon ausgerollt, bei anderen waren sie nur zu erahnen. Bei jedem neuen Spaziergang entdeckte ich mehr Keimlinge im Wald. Überall!
Sehen und übersehen
Warum nur sind mir die Keimlinge in den vergangenen vierzig Jahren nie aufgefallen?
Für manches ist man blind – bis man es entdeckt. Obwohl es da ist. Und man sogar meint: Das kann man doch gar nicht übersehen. Doch, kann man.
Das ging mir auch mit Gott schon manchmal so. Mit 18 hatte ich den Eindruck, viel von ihm verstanden zu haben. Mit 30 auch. Heute lächle ich darüber. Mittlerweile weiß ich, wie wenig ich Gott kenne, ihn verstehe. Und doch meine ich auch heute: Ja, so einiges habe ich von ihm verstanden.
Habe ich? Ich bezweifle es. Vermutlich habe ich so viele Dinge aus Gottes Welt bisher nicht gesehen, auch wenn sie da sind. Garantiert laufe ich an vielem vorbei, sehe manches vielleicht erst in zehn Jahren oder vierzig. Oder ich checke es erst, wenn Gott es mir eines Tages persönlich zeigen wird.
Ich sehe viel – und ich verpasse viel. Gerade im Frühling, wenn das Leben explodiert, kann man unmöglich alles sehen. Vielleicht ist das im Leben mit Gott genauso. Gott ist Fülle und Leben pur; er ist mehr als hunderttausendmal Frühling. Ich kann unmöglich alles von ihm sehen.
Details verraten mehr
Aber ich sehe Details. Sie verraten mir viel. Zugleich zeigen sie mir, wie viel Geheimnis Gott ist.
Die Keimlinge faszinieren mich. Sie sind ein Mikrokosmos in Gottes großer Schöpfung. Es gibt sie, weil irgendwann ein Same genau an dieser Stelle auf dem morschen Stamm gelandet ist. Weil weder Wind noch Wetter ihn fortgefegt haben, keine Meise ihn weggepickt hat. Und jetzt ist er aufgegangen, weil er durch die Sonne den Impuls bekommt: Wachse!
Der Keimling weiß genau, was er zu tun hat. Er ist perfekt programmiert. Und jeder dieser Keimlinge hat das Potenzial, einmal ein großer Baum zu werden. Ich stehe daneben und staune. Dabei ist es „nur“ ein Keimling. Einer von Millionen. Und doch zeigt er mir viel. Auch über Gott.
Einer der ersten Keimlinge, die ich entdecke und fotografiere, trägt einen Hut. Das, was ich mir früher an die Nase geklebt habe, den Ahornsamen, der Keimling trägt ihn noch auf den Kopf. Noch konnte er seine Bettdecke nicht abschütteln.
Wie ist Gott? Wenn ich ehrlich bin: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, kann seine Fülle niemals überblicken. Zugleich sehe ich in diesem kleinen Ahornkeimling viel von ihm. Und staune.
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Stephanie Kelm
ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.