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So wie du bist

Darf ich beim Beten gähnen? Wie bin ich richtig vor Gott? Gibt es bei Gott No-Gos? Gott interessiert sich eigentlich nur für eins.

Ein besonderes Bild

Es ist ein besonderes Bild. Zu sehen sind Mädchen im Alter von ungefähr sechs Jahren. Sie knien auf dem Schulboden nebeneinander, haben Schleifen im Haar, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet. Wäre es allerdings nur das, ein uniformes Bild einer Morgenandacht, ich hätte das Bild wohl schnell weggelegt. Ich wehre mich gegen aufgedrückten Glauben und terminierte Frömmigkeit.

Das Mädchen ganz vorn auf der Schwarz-Weiß-Fotografie hat zwei geflochtene Zöpfe. Über ihrem Ohr klemmt eine helle Haarspange, das Ende ihres dünnen, schwarzen Zopfes ist mit einer Schleife zusammengebunden. Sie hat ein Trägerkleid an, steckt mit ihrem Pullover mittendrin. Wie alle Mädchen hat sie die Augen geschlossen, ihre gefalteten Fingerspitzen ganz nah an ihrer Nase. Und sie gähnt.

Das ist es, was mich berührt.

Wenn das Mädchen könnte, würde es sein Gähnen verstecken, ganz sicher. Aber die Kleine kann es nicht verstecken, auch wenn ihre Hände dicht unter der Stupsnase und ganz nah vor ihren Lippen sind: Ihr offener Mund ist nicht zu übersehen.

Darf ich beim Beten gähnen?

Darf ich beim Beten gähnen? Vielleicht ist das eine seltsame Frage. Und mit dem, was ich von Gott weiß, würde ich selbstbewusst sagen: „Du darfst gähnen! Und wenn du gähnen musst, sollst du auch gähnen.“ Dennoch berührt dieses Bild etwas in mir, was mir eben nicht fremd ist, sondern vertraut.

Ich habe gelernt: Für Gott nur das Beste. Und das stimmt. Aber manchmal führt mich dieser Vorsatz in die Irre. Dann meine ich, dass ich nicht gut genug bin für Gott. Oder dass ich etwas sein muss, was ich nicht bin. Munter zum Beispiel. Und dass Gott enttäuscht ist, wenn ich nicht ganz bei der Sache bin, wenn ich bei ihm bin. Denn er ist doch Gott!

Einerseits stimmt das. Wenn ich bete, ist der Schöpfer des Universums mein Gegenüber. Und früher habe ich manchmal den Vergleich gehört: „Wenn man bei der Queen eingeladen ist, macht man ja auch kein Nickerchen.“ Dennoch verleitet mich dieser Satz dazu, richtig vor Gott sein zu wollen. Und was eigentlich Gespräch, Begegnung und Vergnügen sein sollte, wird dann schnell zu einer Form, bei der die äußere Haltung und Korrektheit wichtiger sind als ich.

Gott braucht keine Schleife

Gott ist Schöpfer des Universums und absolut würdig, dass ich ihm wach gegenüberstehe. Er noch mehr als die Queen! Er ist heilig, gerecht und allmächtig. Er ist definitiv keiner, bei dem Gähnen angebracht ist.

Zugleich sage ich: Und er ist keiner, der mich disziplinieren und in eine Form hineinpressen will. Er braucht es nicht, dass ich vor ihm mit Schleife im Haar knie. Er braucht es nicht, dass ich meine Augen schließe und früh um sechs hellwach für ihn bin.

Wenn ich das Mädchen auf der Karte sehe, dann bin ich ihm fast dankbar für die unbeabsichtigte Ehrlichkeit, die diese Fotografie vom 14. Januar 1954 aus der Morgenandacht der South Mead School in Wimbledon transportiert. Dann möchte ich diesem Mädchen am liebsten zurufen: „Gähn ruhig! Du darfst müde sein! Es stört Gott nicht.“

Und nachsetzen: „Es stört nur Menschen.“

Die Frage der Liebe

Manchmal machen wir Menschen aus dem, was Gott uns geschenkt hat, Formen und Programme. Und wer nicht hineinpasst, der ist falsch oder zumindest nicht richtig. Und wer nicht mitmacht, der gehört nicht dazu und glaubt nicht richtig.

Darf ich beim Beten gähnen? Menschen haben schon immer gern Regeln aufgestellt. Gott selbst gibt nur ein Gebot: „Liebe. Liebe mich, liebe dich, liebe deinen Nächsten.“ Vom Gähnen redet er nicht und auch nicht von anderen Regeln, die wir uns dazu ausdenken, wie ein guter Christ auszusehen und wie er sich zu geben hat.

Liebe kann nicht erzwungen werden. Egal wie toll die Form ist, wenn sie die Liebe nicht eingepackt hat, nützt sie nichts. Siehe Paulus‘ Hohelied der Liebe in 1. Korinther 13.

Darf ich beim Beten gähnen?, ist eine Frage der Angst. Gott stellt mir eine andere Frage. Er fragt: Liebst du mich? Auch auf diese Frage ist die Antwort nicht leicht. Ich wage nicht zu sagen, ich würde Gott lieben. Ich halte Gott vielmehr meine ganze Unfähigkeit zu lieben hin. Und hoffe, er macht daraus irgendwann Liebe. Und doch, unser Dialog ist echt, wir sind in Berührung – ich mit meiner Nichtliebe und er mit seiner Liebe.

Und darauf, kleines Mädchen, kommt es an. Auf nichts anderes.

Notiz: Da ich die Bildrechte des beschriebenen Fotos nicht besitze, kann ich es hier nicht zeigen. Das Bild ist eine Fotografie von Bela Zola/Daily Mirror/Mirrorpix und findet sich in der Datenbank von Gettyimages.

Foto: pixabay | use at your ease


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Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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