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Zerstörte Schönheit

Der kleine Feuerahorn war mir ans Herz gewachsen. Jetzt haben ihn Randalierer umgehauen. Es tut mir weh. Aber randaliere ich nicht auch?

Wir spazieren so in Gedanken, dass ich erst spät merke, dass hier heute etwas anders ist. Eigentlich ist es unsere gewohnte Runde. Sie führt meinen Mann und mich durch einen Park mit Wiesen und ein paar jungen Bäumen, die erst vor einigen Jahren gepflanzt wurden.

Die Bäume kenne ich. Fast täglich gehe ich daran vorbei. Und dieser hat mir immer ganz besonders gut gefallen, denn vor allem im Herbst wurde er sichtbar. Dann begannen plötzlich seine sonst eher unscheinbaren Blätter zu leuchten! Aber wie! Der Name Feuerahorn passt jedenfalls richtig gut.

Als ich heute an diesem Baum vorbeigehe, und tatsächlich bin ich schon vorbei, bemerke ich: Jemand hat ihn abgehauen. Mittendrin am Stamm, der gerade so dick war wie mein Oberarm. Einfach auf Brusthöhe abgeschlagen, mit einem Messer. Aus Langeweile oder Zerstörungswut.

Es tut mir weh

Es tut mir weh, diesen Baumstumpf zu sehen. Wie kann man nur einfach einen so jungen und extra hier gepflanzten Baum abholzen? Ich verstehe es nicht! Hatte derjenige denn gar keinen Sinn für die Schönheit, für diesen Baum, für das Leben? Ich bin betroffen, sprachlos.

Schweigsam setzen wir unseren Spaziergang fort. Die Herzlosigkeit macht mich traurig. Bäume haben für mich so viel Würde und Stärke. Sie geben mir so viel, ich finde bei ihnen Schatten und Schutz. Sie sorgen dafür, dass ich Sauerstoff einatmen kann. Sie sind Lebensraum. Wie kann man nur einfach aus einer Laune heraus einen Baum fällen?

Feuerahornblatt im Herbst
Feuerahornblatt im Herbst
Feuerahorn Blatt Rückseite

Ich randaliere auch

Der Baum liegt schon ein Stück hinter uns, als mir ein unbequemer Gedanke kommt: Doch, ich fälle auch jeden Tag Bäume. Vielleicht keine richtigen, aber wie oft mache ich mit Menschen kurzen Prozess, sortiere sie irgendwo ein, verleiere genervt die Augen, ziehe mich zurück oder gebe kluge Ratschläge, die nicht sehr weise sind.

Heute, zu Anfang des Spaziergangs, hatte ich meine Phase der klugen Ratschläge für meinen Mann. Was ein netter Familienspaziergang werden sollte, war für ihn wohl eher Spießrutenlauf. Ich konnte nicht aufhören, habe immer weiter auf ihn eingeredet – und das Messer immer tiefer geschlagen.

Ich fälle keine Bäume. Ich fälle Menschen. Ich verletze sie, hacke auf sie ein – und vergesse dabei ihre Schönheit und Würde. Wie schnell habe ich Menschen klein gemacht, ausgeschaltet, sie des Lebens beraubt, das Gott ihnen geschenkt hat.

Von dem Randalierer denke ich: „Wie kann er nur? Sieht er denn nicht …?“, aber ich mache es genauso. Und ich gehe vielleicht gut mit Bäumen um, aber mit Menschen ist noch viel Luft nach oben.

Luft nach oben

Das warme, weite Herz steht noch immer auf meiner Wunschliste. Liebevolle Gelassenheit. Gütige Geduld. Weise Besonnenheit. Wie gut wäre es, wenn ich in jedem Menschen wirklich Schönheit, Anmut und Würde sehen könnte – und sie ihnen zugestehen würde!

Denn nein, ich weiß nicht alles besser. Und ja, der andere gibt wirklich sein Bestes. Auch ist nicht immer die Schönheit auffallend und sichtbar. Manchmal zeigt sie sich nur zeitweise, wie beim Feuerahorn im Herbst. Trotzdem ist sie das ganze Jahr da.

Die Begegnung mit dem Feuerahorn und mit meinem eigenen Randalieren hat mich still gemacht. Nein, ich möchte anderen nicht die Krone abschlagen, ich möchte sie nicht kleinmachen. Ich will keine „Bäume“ fällen, Leben nicht töten. Der Feuerahorn soll leben!

Hoffnungsvoll

Ob der Baum am Stamm wieder austreibt? Ich wünsche es mir. Und ich wünsche mir, dass ich ein Mensch des Friedens bin, des Lebens. Einer, der die Schönheit in anderen sieht, auch wenn gerade nichts leuchtet. Einer, der andere sein lässt und pflegt, damit sie zur richtigen Zeit leuchten können.

Ich glaube, Gott ist so jemand. Er spricht zwar nicht vom Baum, den er nicht fällt, aber vom geknickten Rohr, das er nicht zerbricht (Jesaja 42,3; Matthäus 12,20).

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

Matthäus 12,20

Wie warm und weit Gottes Herz ist! Und wie sehr Gott versteht, was ich brauche. Als mein Schöpfer weiß er: Nur so kann ich irgendwann leuchten wie der Feuerahorn.



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Stephanie Kelm

ist verheiratet und zu Hause im Taunus. Sie liebt es, schreibend und wandernd Gottes Welt zu entdecken und ist staunend und stolpernd unterwegs ins Vertrauen.


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